Brébeuf holte ein paarmal tief Luft. Er hatte ein Stadium erreicht, in dem ihm allein beim Anblick von Armand Gamache übel wurde.
Inspector Jean Guy Beauvoir saß am Steuer des Volvo und fuhr auf der Pont Champlain über den St.-Lorenz-Strom und anschließend auf der Autobahn in die Eastern Townships weiter nach Süden in Richtung amerikanische Grenze. Als der letzte Volvo des Chefs vor einem Jahr endgültig den Geist aufgegeben hatte, hatte Beauvoir ihm vorgeschlagen, sich einen MG zuzulegen, aber aus irgendeinem Grund hatte der Chef das für einen Scherz gehalten.
»Also, worum geht es?«
»Gestern Nacht wurde in Three Pines eine Frau zu Tode erschreckt«, sagte Gamache und betrachtete die vorbeiflitzende Landschaft.
»Sacré. Das heißt, wir suchen wonach? Nach einem Gespenst?«
»Das kommt der Sache vielleicht näher, als Sie denken. Es passierte während einer Séance. Im alten Hadley-Haus.«
Gamache drehte sich um und musterte das schmale, attraktive Gesicht seines jungen Inspectors. Es wurde noch schmaler, und er presste die Lippen so fest aufeinander, dass alle Farbe aus ihnen wich.
»Dieses verfluchte Haus«, sagte Beauvoir schließlich. »Man sollte es abreißen.«
»Meinen Sie, das Haus ist schuld daran?«
»Sie nicht?«
Das war ein erstaunliches Geständnis für Beauvoir. Normalerweise war er immer so sachlich, völlig rational, er vertraute ausschließlich den Fakten und gab nichts auf Dinge, die man nicht sehen konnte, wie Gefühle beispielsweise. Er war die perfekte Ergänzung zu seinem Chef, der Beauvoirs Meinung nach viel zu viel Zeit damit verbrachte, in die Köpfe und Herzen anderer Leute zu kriechen. Da drin herrschte nur Chaos, und dafür hatte Beauvoir nicht sehr viel übrig.
Aber falls es jemals so etwas wie einen Beweis für das Böse gegeben hatte, dann war es Beauvoirs Erfahrung nach das alte Hadley-Haus. Er rutschte unbehaglich auf dem Fahrersitz hin und her und warf einen Blick zum Chef. Gamache betrachtete ihn nachdenklich. Sie sahen sich in die Augen, die von Gamache wirkten ruhig und gelassen und waren von einem sehr dunklen Braun, die von Beauvoir beinahe grau.
»Wer ist das Opfer?«
11
Das Sträßchen, das nach Three Pines führte, war landschaftlich reizvoll, aber auch tückisch, wie Gamache wusste. Das Auto holperte, schlingerte und hüpfte von Schlagloch zu Schlagloch, bis Beauvoir und Gamache sich wie gut durchgeschüttelte Milchshakes vorkamen.
»Vorsicht.« Gamache deutete auf ein riesiges Schlagloch in der unbefestigten Straße. Bei dem Versuch, ihm auszuweichen, rumpelte Beauvoir in ein noch größeres, anschließend schaukelte der fast neue Volvo über eine Reihe Rillen, die sich tief in die Erde gegraben hatten.
»Noch mehr Ratschläge?«, knurrte Beauvoir, den Blick starr auf die Straße gerichtet.
»Ich habe lediglich vor, alle paar Sekunden ›Vorsicht‹ zu rufen«, sagte Gamache. »Vorsicht.«
Vor ihnen tat sich etwas auf, das wie das Einschlagloch eines Meteoriten aussah.
»Mist.« Beauvoir riss das Lenkrad herum und schlitterte haarscharf daran vorbei. »Das ist ja gerade so, als wollte das Haus nicht, dass wir kommen.«
»Und deshalb hat es den Straßen befohlen, sich zu öffnen?« Selbst Gamache, der sich leidenschaftlich gern mit Seinsfragen beschäftigte, war überrascht. »Glauben Sie nicht, es könnte vielleicht am Tauwetter liegen?«
»Na ja, schon möglich. Vorsicht.« Sie rumpelten in ein Schlagloch und wurden nach vorne geworfen. Schlingernd und fluchend drangen sie langsam immer tiefer in die Wälder vor. Die unbefestigte Straße wand sich durch Kiefern- und Ahornwälder, Täler entlang und kleine Berge hinauf. Sie führte an rauschenden Flüssen vorbei, wie in jedem Frühling vom Schmelzwasser angeschwollen, und an grauen Seen, die erst seit Kurzem von ihrer winterlichen Eisdecke befreit waren.
Dann waren sie am Ziel.
Gamache bot sich der vertraute und seltsam tröstliche Anblick der Fahrzeuge der Spurensicherung, die am Straßenrand abgestellt waren. Das alte Hadley-Haus konnte er noch nicht sehen.
Beauvoir stellte den Volvo vor der stillgelegten Sägemühle gegenüber dem Haus ab. Als Gamache die Tür öffnete, empfing ihn ein intensiver Geruch, er hielt kurz inne und schloss die Augen.
Er sog den Geruch tief ein und wusste sofort, was es war. Kiefern. Der kräftige Geruch frischer neuer Triebe. Er tauschte seine Schuhe gegen Gummistiefel, zog seine Barbour-Jacke über sein Jackett und setzte seine Tweedkappe auf.
Ohne einen Blick auf das alte Hadley-Haus zu werfen, stapfte er zur Kuppe des Hügels. Beauvoir zog seine italienische Lederjacke über seinen Rollkragenpullover aus Merinowolle und musterte sich im Spiegel. Nach einem zufriedenen Blick ging er zu Gamache und stellte sich neben ihn, Schulter an Schulter standen die beiden Männer da und blickten über das Tal.
Armand Gamache liebte diese Aussicht. Auf der anderen Seite erhoben sich einer nach dem anderen die Berge, die Hänge von dem hellen Grün unzähliger Triebe überzogen. Unter den Geruch der Kiefern mischten sich jetzt der von Erde und einige andere Düfte. Der kräftige moschusartige Geruch vertrockneter Herbstblätter, der Rauch von Holzfeuer, der aus den Kaminen stieg, und noch etwas. Er hob den Kopf und atmete noch einmal tief ein, ganz langsam. Hinter den herben Gerüchen verbarg sich ein zarter Duft. Die ersten Frühlingsblumen. Die ersten und mutigsten von ihnen. Gamache musste an die würdevolle, schlichte Holzkirche mit dem weißen Turm denken. Sie lag rechts von ihm zu seinen Füßen. Er war schon oft in St. Thomas gewesen und wusste, dass an einem klaren Morgen wie diesem durch das alte bemalte Fenster buntes Licht auf die glatt polierten Bänke und den Dielenboden fiel. Auf diesem Fenster waren nicht Christus oder das Leben Heiliger und der Märtyrertod von Heiligen dargestellt, sondern drei junge Männer aus dem Ersten Weltkrieg. Zwei waren im Profil abgebildet und marschierten vorwärts. Der dritte jedoch blickte die Gemeinde direkt an. Nicht anklagend, nicht besorgt oder ängstlich. Sondern fast zärtlich, als wollte er sagen, dies sei sein Geschenk an sie. Nutzt es gut.
Darunter standen die Namen derer, die in den beiden Kriegen gefallen waren, und ganz zum Schluss noch eine Zeile.
Sie waren unsere Kinder.
Als Gamache jetzt auf der Hügelkuppe stand und auf das hübscheste und freundlichste Dorf hinuntersah, das er kannte, den Duft der tapferen jungen Blumen roch, da fragte er sich, ob immer die Jungen die Tapferen waren. Während die Alten ängstlich und feige wurden.
War er es? Auf jeden Fall hatte er Angst davor, diesen riesigen Kasten zu betreten, dessen Atem er in seinem Nacken spürte. Vielleicht war das aber auch Beauvoir. Es gab allerdings noch etwas, das ihm Angst machte.
Arnot. Dieser verfluchte Arnot. Und das, wozu dieser Mann selbst aus dem Gefängnis heraus noch imstande war. Vor allem aus dem Gefängnis heraus, wohin Gamache ihn gebracht hatte.
Doch selbst diese düsteren Gedanken verflogen bei dem Bild, das sich ihm bot. Wie konnte er mit diesem Anblick vor Augen Angst haben?
Three Pines duckte sich in das kleine Tal. Aus den Schornsteinen stieg der Rauch von Holzfeuern, Ahorn-, Kirsch- und Apfelbäume standen voller Knospen, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie aufblühten. Hier und da sah man Leute, einige arbeiteten in ihren Gärten, andere hängten frisch gewaschene Wäsche auf, wieder andere fegten ihre hübschen breiten Veranden. Frühjahrsputz. Dorfbewohner gingen über den grünen Dorfanger, beladen mit Taschen voller Baguettes und anderen Lebensmitteln, die Gamache zwar nicht sehen, sich aber vorstellen konnte. Käse und Pasteten hier aus der Gegend, frische Eier und aromatische Kaffeebohnen aus den Läden da unten.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Fast Mittag.
Gamache hatte schon früher Ermittlungen in Three Pines durchgeführt und