»Hahaha, ein Pferd,« lachte einer der Knaben, »du kannst wohl nicht dafür, Hanna?«
»Doch, es ist ein Pferd.«
»Mit drei Beinen. – Wo hat es denn den Schwanz?«
Die kleine Hanna gab keine Antwort. Fast andächtig schaute sie in die Wolken. Es machte ihr ein besonderes Vergnügen, allerlei Gestalten und Figuren aus den Wolkenbildungen herauszusuchen. Langsam kehrte sie an den Strand zurück, setzte sich dort nieder und wühlte die nassen Füße in den weißen, warmen Sand. Jedesmal wenn die Sonne so leuchtend ins Meer hinabsank, mußte die kleine Hanna Ströde hinunter an den Strand laufen. Dann hielt es sie nicht länger in der bescheidenen Fischerhütte. Das rotgolden gefärbte Wasser lockte das Mädchen mit unwiderstehlicher Gewalt, und das Rauschen des Meeres war ihr der schönste Gesang.
»Komm, Hanna, wir wollen Steine werfen,« rief ihr einer der Knaben zu.
Die Angeredete schüttelte den Kopf. Sie wollte das Schiff betrachten, das sich aus den Wolken gebildet hatte. Es war ein stattliches Fahrzeug mit hohen Masten und rauchenden Schornsteinen.
»Wenn ich erst groß bin,« murmelte das kleine Mädchen, und die blauen Augen weiteten sich, »wenn ich erst groß bin, fahre ich mit dem Vater immer weiter und weiter, bis das große Meer einmal zu Ende ist. – O, wie wird das schön sein!«
Sie nahm nicht mehr teil an dem fröhlichen Spielen und Lärmen der anderen Kinder. Sie träumte so gerne und hörte aus dem Rauschen des Meeres die seltsamsten Geschichten. Denn da unten, tief auf dem Wassergrunde, lebten schöne Frauen, dort wuchsen die prächtigsten Blumen, dort gab es Muscheln und Perlen in Mengen, und wer Glück hatte, der fischte solche Kostbarkeiten heraus. Wie oft schaute sie dem Vater neugierig ins Netz, ob sich nicht zwischen den Maschen die goldene Krone einer Meerjungfrau gefangen habe. Aber der Vater hatte bisher kein Glück gehabt, nur Flundern und Heringe schickten ihm die Wasserfrauen und mitunter viele häßliche Schlinggewächse, die die Netze zerrissen und dem Vater Arbeit machten.
Als das Meer seine rote Farbe allmählich verlor, erhob sich Hanna, denn es war Zeit heimzugehen. Das kleine Häuschen, in dem der Vater wohnte, stand ganz hinten am Ende des Dorfes, von allen Fenstern aus sah man das Meer, man hörte sein Rauschen bis in die fernsten Winkel der Zimmer. Das Rauschen hatte Hanna als ganz kleines Mädchen bereits in den Schlaf gesungen, denn die Mutter war ihr so früh gestorben, daß Hanna keine Erinnerung an sie hatte. Und wenn andere Kinder von ihrer Mutter erzählten, wurde in der kleinen Fischerdirne ein unerklärliches Sehnen wach, dann lief Hanna wohl hinab zum Strande, warf sich in den Sand, sprach leise mit der weiten Wasserfläche, und das Plätschern der Wellen schien ihr Antwort zu geben auf sehnsuchtsvolle Fragen.
Das Meer war immer ihre Trösterin gewesen. Die kleine Hanna erinnerte sich noch deutlich jenes Tages, an dem sie von Tante Berta, die dem Vater die Wirtschaft führte, geschlagen worden war. Sie hatte einen schönen Teller zerbrochen, und die Tante hatte sie dafür derb auf die Hände geklopft. Da hatte Hanna wohl eine Stunde lang am Meere gelegen und war erst durch dessen Murmeln wieder getröstet worden.
Heute war nichts Trauriges in ihr. Wenn sie heimkam, gab es eine reichliche Abendmahlzeit, dann durfte sie vielleicht auch noch ein paar Augenblicke zu den netten Leuten, die jedes Jahr im Spätsommer nach dem kleinen Ostseebade kamen und bei Fischer Ströde Wohnung nahmen. Hanna wußte es nicht anders, als daß Professor Bender und seine Frau alljährlich bei ihnen weilten und so lieb und nett waren, daß es Hanna stets warm ums Herz wurde, wenn sie der schönen Frau in die Augen schauen durfte.
Was gab es bei diesen Fremden nicht alles zu sehen! Wenn die Koffer ausgepackt wurden, stand die kleine Hanna staunend daneben, wagte jedoch nicht zu fragen, wozu die glänzenden Flaschen und Büchsen dienten. Auch über die vielen Bücher wunderte sie sich, die der Onkel Professor mitbrachte. Jedesmal, wenn das Ehepaar nach Neuendorf kam, gedachte man der kleinen Hanna, und die schönen Puppen, die sie besaß, waren Geschenke von Tante Bender.
Leichtfüßig eilte Hanna mit bloßen Füßen den Strand hinab. Endlich war das kleine Fischerhäuschen erreicht. Es war ein Parterrehaus mit vier Fenstern Front und einer schmalen Haustür, vom Flur aus ging es links in die beiden Zimmer, die der Professor bewohnte, rechts lebte der Fischer Ströde mit seiner achtjährigen Tochter Hanna und einer entfernten Verwandten. Berta führte dem verwitweten Fischer nun schon seit Jahren den Haushalt, kam ihren Pflichten aber stets mit mürrischer Miene nach, viel lieber wäre sie zu ihrer in der Stadt verheirateten Schwester gezogen, doch sah sie ein, daß sie den Vetter und das kleine Mädchen nicht ohne Beistand zurücklassen konnte. Aber es verging wohl kein Tag, an dem Berta dem Vetter nicht zuredete, sich endlich wieder zu verheiraten.
Fischer Ströde war ein schwerfälliger Mann. Er hatte mit seiner verstorbenen Frau recht glücklich und zufrieden gelebt, liebte sein Töchterchen über alles und fürchtete, daß eine neue Mutter vielleicht doch nicht gut im Hause täte. Obwohl es im Dorfe manches Mädchen gab, das den fleißigen Fischer Ströde gerne geheiratet hätte, war es doch noch keiner gelungen, Ströde so an sich zu fesseln, daß er sich zu einer Ehe entschloß.
Als Hanna die Tür zu dem gemeinsamen Wohnzimmer öffnete, das sehr einfach ausgestattet war, hatte man bereits den Abendbrottisch gedeckt. Der Vater saß am Fenster und besserte eines der großen Flundernetze aus. Voller Eifer berichtete ihm Hanna von dem Schiff und dem Pferd, das sie heute am rosig gefärbten Abendhimmel gesehen habe. Lächelnd hörte Ströde dem Bericht seiner Tochter zu. Er war ein Mann Mitte der Dreißig, hatte ein gutmütiges, hübsches Gesicht, aus dem ein paar ehrliche Augen herausschauten.
»Wieviele Jahre muß man denn fahren, Vater, bis das Meer zu Ende ist?«
Ströde lachte. »Wenn du erst größer geworden bist und in der Schule mehr gelernt hast, nehme ich dich einmal mit.«
»Was liegt denn hinter dem Meere, Vater?«
Der Fischer wies mit der Hand durch das Fenster. »Wenn wir hier immer geradeaus fahren, kommen wir an die Küste eines anderen Landes. Dieses Land heißt Schweden.«
»Und dann?«
»Dann kommt wieder Wasser, aber es wird immer kälter, bis es schließlich zu festem Eis gefroren ist. Dann kann kein Schiff mehr hindurchfahren.«
»Leben auf dem Eise auch Menschen, Vater?«
»Nein, kleine Hanna.«
»Und wie lange bleibt das Eis?«
»Das schmilzt niemals.«
Nachdenklich blickte Hanna zu Boden. »Das muß nicht schön sein, Vater. Wenn nur Eis ist, kann das Wasser doch nichts mehr reden.«
»Nein, dort oben ist es totenstill.«
Plötzlich zog Ströde den kleinen Blondkopf an seine Brust. Hanna schmiegte sich fest an den Vater. Es passierte nicht oft, daß der stille Mann sein kleines Mädchen so zärtlich im Arme hielt.
»Du mußt immer ein braves und fleißiges Mädchen sein, Hanna; mußt immer fest an den lieben Gott glauben, der in jeder Not hilft. Deine Mutter war auch eine gute und brave Frau.«
Hanna erwiderte kein Wort. Warum sprach der Vater in so eigenartigem Tone zu ihr?
Aber auch Ströde strich sich mit der Hand über die Stirn. Was kamen ihm denn plötzlich für düstere Gedanken? Er schob Hanna wieder von sich.
»Jetzt wird noch ein wenig weiter gearbeitet, weil ich das Netz heute nacht mit hinausnehmen will.«
In demselben Augenblicke wurde die Tür geöffnet. Eine ältliche Frau betrat das Zimmer, die eine Schüssel mit dampfenden Kartoffeln in den Händen hielt. Es war Tante Berta, die das Abendbrot brachte.
»Soll es denn heute nacht wieder fortgehen?«
»Freilich, Berta.«
»Wann kommst du zurück?«
»Ich denke, daß wir morgen früh gegen sieben wieder hier sind.«
»So ein Handwerk sollte mir passen,« klang es von den Lippen der Frau, »bei Nacht