»An die See?« In den wenigen Worten lag helles Jauchzen.
»Kommst du denn von der See?«
»Ich bin doch das Pommerle!«
»Richtig ja, du bist ja das Pommerle,« sagte der Maler, »sieh mal, das hätte der Rübezahl jetzt beinahe vergessen. Ja, ja, du bist ja das kleine Pommerle und willst wieder an die See zurück, weil es dir im Gebirge nicht gefällt.«
»Ach ja.«
»Und nun soll dich der Rübezahl wieder nach Pommern zurückbringen?«
»Ich setze mich mit auf deinen Mantel, und dann fliegen wir zurück zum Vater, vielleicht ist der Vater inzwischen zurückgekommen. Die Tante sagt zwar, er ist beim lieben Gott im Himmel, aber er wird gewiß noch einmal zurückkommen.«
Paeschke sah ein, daß er hier nicht länger verweilen durfte. Der Weg bis zur Koppe war noch sehr weit, es war völlig undenkbar, das stark ermattete Kind bis hinauf zu den Koppenhäusern zu bringen. So überlegte er, wo wohl die nächste Unterkunftsstätte zu finden sei. Er beschloß, durch den Eulgrund hinab nach Wolfshau abzusteigen. Schon vor dem kleinen Orte lag ein Forsthaus, dort konnte man vielleicht eine Stärkung erhalten.
»Das beste wird wohl sein, kleines Pommerle, wenn wir zusammen weitergehen. Unterwegs erzählst du mir dann, woher du kommst und wohin du willst.«
Pommerle hatte das größte Vertrauen zu seinem Begleiter. Es hatte immer gehört, daß Rübezahl hilfsbereit sei; und da ihm Rübezahl in größter Not erschienen war, war es doch selbstverständlich, daß ihm der gute Berggeist auch weiterhin Beistand leisten würde. Schon nach wenigen Schritten merkte der Maler, daß das kleine Mädchen völlig erschöpft war. Er hielt es fest an der Hand, aber Pommerle stolperte unausgesetzt. Was war hier zu machen? Bis zu einem schützenden Dach war es noch weit; es war kaum anzunehmen, daß zu so später Stunde auf diesem ohnehin einsamen Wege noch ein Wanderer kam, um das Kind zu tragen, dazu war es zu groß und zu schwer. Ein Weilchen war es ihm vielleicht möglich, Pommerle auf den Rücken zu nehmen, aber der Weg war teilweise so schlecht, daß er selbst Mühe hatte, weiterzukommen.
Nochmals rasten ging auch nicht an, denn hier im Gebirge wurde es schnell dunkel und kalt.
Man war kaum eine Viertelstunde gelaufen, Pommerle atmete schwer und mühsam.
»Komm, steig auf meinen Rücken.«
In Pommerles Augen leuchtete es auf. »Jetzt fliegen wir,« jubelte es.
»Noch nicht, erst laufen wir noch ein wenig.«
»Und dann fliegst du mit mir an die See?«
Schweigend setzte man den Weg fort, Pommerle hatte die Arme um den Hals des Malers geschlungen und saß fest und sicher auf seinem Rücken. Hastig schritt Paeschke aus, sorgsam auf jeden Schritt achtend, daß er nicht stolpere. Er hatte von Pommerle alles Wissenswerte erfahren, leider aber konnte das Kind den Ort nicht nennen, in dem die Pflegeeltern weilten. Er hatte alle Ortschaften namhaft gemacht, von Agnetendorf, Brückenberg, Schreiberhau, Krummhübel gesprochen, aber Pommerle hatte alle diese Namen während der Reise von Tante Bender gehört, wußte aber nicht, in welcher Ortschaft man sich niedergelassen hatte.
Paeschke, der das Gebirge genau kannte, hatte versucht, aus dem Wege, den das Kind genommen, zu ergründen, von woher es aufgestiegen sei. Aber die Beschreibung, die Pommerle ihm gab, war sehr mangelhaft.
»Hinter den Häusern sind wir aufwärts gegangen und dann über viele Steine noch weiter aufwärts. Dann hat der Jule zwei Frauen getroffen, ist nochmals zurückgegangen, und mir hat er gesagt, ich sollte zu dem Hause hinaufgehen, das da oben steht. In dem Hause waren gute Leute, die haben mir Milch gegeben, und dann bin ich auf den ganz hohen Berg hinaufgegangen – aber die Ostsee habe ich dort doch nicht gesehen.«
Der Maler hatte sich vorgenommen, von dem Forsthause Wolfshau aus zu telephonieren. Daß Pommerle aus Hirschberg kam, hatte er sicher erfahren. Auch den Namen des Professors Bender kannte das Kind, und da Paeschke mehrere Wochen in Hirschberg im Vorjahre gelebt hatte, war ihm sogar der Professor vom Sehen bekannt. So wollte er sich sogleich, wenn er zum Förster kam, mit Hirschberg in Verbindung setzen. Aber ein Ausweg war das noch nicht, denn ohne Zweifel weilten Benders zur Zeit nicht in Hirschberg, sondern waren im Gebirge.
Immer neue Fragen stellte der Maler an das Kind.
»Wie sehen denn die Häuser aus in dem Orte, in dem du gestern warst? Ist dort kein Gasthaus? Weißt du vielleicht den Namen des Gasthauses?«
Und wieder gab Pommerle Beschreibungen von Häusern, die für jeden Ort paßten. Es erzählte, daß man von den Zimmerfenstern aus die Berge sehen konnte, daß viele kleine Gärten vor den Häusern wären, und daß das Haus gerade gegenüber herrliche rote Fensterläden habe.
Pustend und keuchend schleppte der Maler seine Last zu Tale. Auf die Dauer wurde ihm die Kleine schwer, aber er sah ein, daß das Pommerle, das den ganzen Tag in den Bergen umhergelaufen war, nicht noch mehr leisten durfte. Das Köpfchen der Kleinen fühlte sich ohnehin heiß an, mitunter fröstelte sie.
Endlich war das Ziel erreicht.
»So, kleines Pommerle, nun steige ab.«
»Sind wir jetzt bei dir in deinem Schlosse, lieber Rübezahl?«
»Wir sind in einem Forsthause, bei guten Leuten.«
Pommerle klammerte sich ängstlich an die Hand ihres Begleiters.
»Ist hier die Polizei?«
»Hab keine Sorge, kleines Pommerle, zum Rübezahl kommt keine Polizei. Rübezahl behütet dich jetzt, und wenn du gut geschlafen hast und gründlich ausgeruht bist, bringt dich der Rübezahl zu deiner Tante zurück.«
»Bring mich doch lieber an die See!«
Paeschke strich dem Kinde zärtlich über das Lockenhaar.
»Du kleiner Strandvogel, hast du solche Sehnsucht nach Strand und Meer?«
»Bring mich an den Strand,« rief Pommerle nochmals voller Sehnsucht, »und wenn es nur für morgen ist. Ich möchte so gerne mal wieder die See sehen, hier rauscht kein Wasser, hier erzählt mir niemand so schöne Geschichten. – Hast du auch schon mal die See gesehen?«
»Ei freilich, kleines Mädchen.«
»Bist du hingeflogen, Rübezahl?«
»Das erzähle ich dir alles morgen, Pommerle. Jetzt bringe ich dich hier ins Haus, und du schläfst schön, träumst von den Möven, von den Muscheln und dem weißen Sand, kriegst erst noch was Gutes zu essen, und morgen ist alles wieder gut.«
Der Maler klopfte an die bereits verschlossene Tür des Forsthauses. Da es schon spät war, konnte er mit Bestimmtheit annehmen, daß die Förstersleute bereits zur Ruhe gegangen waren. Wohl lag Wolfshau nicht mehr zu weit von hier entfernt, aber auch Paeschke war ermüdet und hoffte, bei den gutherzigen Förstersleuten wenigstens für das Kind eine Lagerstätte zu bekommen.
Er ging um das Haus herum, klopfte an die Fensterläden. Jetzt vernahm er von innen heraus eine Stimme, die fragte, was es draußen gäbe.
»Ich bringe eine kleine Verirrte, die nicht mehr weiter kann, und bitte um Einlaß.«
Drinnen wurde es hell, und wenige Minuten später öffnete der Förster die Haustür. Paeschke berichtete mit kurzen Worten, was sich unterwegs ereignet hatte.
»Wenn es Ihnen irgend möglich ist, Herr Förster, nehmen Sie das Kind auf, es fiebert bereits, und ich möchte nicht noch weiter mit ihm gehen.«
Auch die Förstersfrau kam herbei und nahm sofort das ängstlich dreinblickende Pommerle in die Arme.
»Selbstverständlich sollst du bei uns ausruhen, du armes kleines Ding, wozu haben wir denn ein Fremdenzimmer! Wenn es dem Herrn recht ist, soll er auch hierbleiben, damit sich die Kleine nicht ängstigt.«