Andrews Wunsch, sich seiner beiden »überschüssigen« Beine zu entledigen, ist mysteriöser. Ramachandrans Arbeiten beschreiben, wie unser Gehirn unser Körperschema kartiert, und erklären, dass das Gehirn, wenn ein Areal wegen des Fehlens eines Körperglieds unterstimuliert ist, die Neuralbahnen auf eine Art und Weise umkartiert, die Sinnesempfindungen in dem fehlenden Körperglied erzeugen kann. Beruhte Andrews Problem auf dem umgekehrten Phänomen: der Unfähigkeit, seine Beine zu spüren? Blieben die elektrischen Impulse seines Gehirns aus, wenn seine Beine stimuliert wurden? Nein. Das wäre vielleicht einfacher gewesen. Andrews Problem war es, seine Beine übermäßig zu fühlen. Seine Lösung war die Amputation. Aber wenn das die Lösung war, woher rührte dann das Problem? Wie war es dazu gekommen, dass Beine, die doch so integraler Bestandteil des Menschen sind, als etwas Überschüssiges empfunden wurden?
Kinder, die sich nicht geliebt fühlen, glauben oft, dass an ihnen etwas falsch ist, so falsch, dass es sie inakzeptabel macht. Das Gefühl, nicht richtig zu sein, ist schmerzhaft und verwirrend, aber das Kind gibt den Wunsch, geliebt und akzeptiert zu werden, nicht auf. Es verzweifelt daran. Es sehnt sich nach der Erfüllung dieses Wunsches und fürchtet sie vielleicht auch. Doch das Streben danach, geliebt und akzeptiert zu werden, führt gleichzeitig zu dem Bemühen, sich selbst zu verändern, jemand zu werden, den das Kind selbst akzeptieren kann.
Weder als Kind noch als Erwachsener hatte Andrew das Gefühl, dass sein Körper akzeptabel war. Seine Beine waren für ihn so anstößig, dass er trotz seiner vielen Versuche, Hilfe zu finden – unter anderem bei Dr. Berger –, nicht mehr fähig war, sich selbst anzunehmen. Schließlich zwängte er beide Beine in einen Stützstrumpf und packte sie dann in Trockeneis, bis sie abstarben, sodass ein Chirurg die bereits atrophierenden Gliedmaßen amputieren musste.
Wir zucken bei dieser Vorstellung zusammen – wegen der Schmerzen der Amputation und wegen der inneren Qual, die einen Mann in den Fünfzigern zu der Überzeugung brachte, sich niemals selbst akzeptieren zu können, solange ihm nicht beide Beine abgetrennt würden. Ein derart extremes Verhalten scheint uns unverständlich. Wie und warum kommt ein körperlich gesunder Mann, der beim Militär war und dort eine harte körperliche Ausbildung durchlaufen hat, an den Punkt, sich nicht nur seiner Beine entledigen zu wollen, sondern es auch tatsächlich zu tun? Und wir fragen uns auch, wie die Geschichte ausgeht, ob die Amputation das Problem wirklich löst. Wird Andrew den Frieden mit sich selbst finden, den er sich vorgestellt hat? Wird er als Amputierter ein befriedigendes Leben führen können?
In den letzten vierzig Jahren haben wir uns daran gewöhnt, solche Fragen in Bezug auf Menschen zu stellen, die sich »im falschen Körper gefangen fühlen«, was ihr Geschlecht anbelangt, und zunehmend darüber sprechen, wie zwingend ihr Bedürfnis nach körperlicher Geschlechtsangleichung ist.[15] Mein erstes Praktikum als angehende Psychotherapeutin machte ich in einer Ambulanzklinik für verurteilte Straftäter, die als zu schwach galten, um die Brutalität eines New Yorker Gefängnisses zu überleben. Diese als Männer gelesenen Häftlinge, die sich als Frauen identifizierten und erwogen, sich ihres als überschüssig empfundenen Penis zu entledigen, stellten, so befand man, für Mitgefangene eine zu große Provokation dar. Also ließ man sie auf Bewährung frei und schickte sie in eine Therapie.
Als meine erste Patientin, Michaela, ihren Penis in eine Vulva umwandeln lassen wollte, war meine erste Reaktion, wenn auch weniger roh als die potenzieller Zellengenoss*innen, doch ziemlich abwehrend. Als junge Feministin, die verstehen wollte, durch welche gesellschaftlichen und psychischen Prozesse wir zu Männern und Frauen gemacht werden, fand ich diesen Wunsch interessant, aber mir war auch unwohl dabei. Der Feminismus vertrat, dass wir uns durch unser biologisches Geschlecht weder definieren noch einschränken zu lassen brauchten, und doch kam ich allmählich dahin zu verstehen, wie gravierend sich Michaela durch das ihre fehldefiniert und eingeschränkt fühlte. Und sie war nicht die Einzige. Andere Patient*innen, Ruby, Maria und George, erschienen zu ihren Terminen mit Kleidern und Schuhen, Handtaschen, Schmuck und Make-up, die eine einzige Zelebration von Weiblichkeit waren und mich schließlich zu der Überzeugung brachten, dass das, was diese Menschen von ihrem Gefühl her waren, nicht zu dem passte, was sie physisch waren.
In dem Maße, wie mein Mitgefühl mit ihrem quälenden Dilemma wuchs, verlor sich mein Unbehagen. Biologie und Psyche waren bei ihnen nicht erwartungsgemäß verschmolzen. Michaelas zwingendes Bedürfnis war die körperliche Angleichung. Sie konnte mit sich als Besitzerin eines Penis so wenig leben wie Andrew mit sich als Besitzer von Beinen. Ihr Penis war eine Unmöglichkeit, und obwohl weder sie noch ich damals, vor mehr als vierzig Jahren, die Worte fanden, die ihr hätten helfen können, erkannte ich sie später in einem 2006 erschienenen Interview mit der Schauspielerin Aleshia Brevard, die die männlichen Genitalien, mit denen sie geboren worden war, als einen »behindernden und oft lebensbedrohlichen Geburtsfehler« bezeichnete.
Dank ihrer Eloquenz vermag sie diese für viele sicher schockierende Aussage in eine so sachliche Form zu kleiden, dass wir das, was sie sagt, ohne Vorurteil oder emotionale Abwehr zur Kenntnis nehmen können. Wir halten erst einmal inne und hören zu. Das Wort »Geburtsfehler« macht uns »den inneren Tumult, … die Verwirrung«[16] vorstellbar, die ihr Leben prägten und es ihr verunmöglichten, ihr psychisches Selbstgefühl mit dem physischen übereinzubringen.
Für Aleshia Brevard war es, genau wie für Michaela, eine zwingende Notwendigkeit, ihren Körper zu anzugleichen. Für sie bestand nicht die Adaptationsmöglichkeit des Cross-Dressings, wie es etwa thailändische Ladyboys praktizieren, jene jungen Männer, die als Lustobjekte für Männer aus der westlichen Welt dienen, deren Homosexualität so mit Scham besetzt ist, dass sie sie Männerkörper suchen lässt, die als Frauenkörper verkleidet sind. Aleshia Brevard unterzog sich einer Geschlechtsangleichung und war Schauspielerin und Theaterregisseurin, ehe sie schließlich Schriftstellerin wurde. Die Operation wurde in den späten 1950er-Jahren vorgenommen, als Brevard in den Zwanzigern war, und bedeutete für sie eine ungeheure Erleichterung.
Auch Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, fordern heute die binäre Geschlechterordnung Mädchen/Junge, Frau/Mann, männlich/weiblich heraus. Weiblichkeit und Männlichkeit kulturell infrage zu stellen steht auf der Agenda, und das bringt für unumstößlich gehaltene Gewissheiten ins Wanken. Es ist schwierig, die Vermischung von biologischen, psychologischen und kulturellen Aspekten der Diskussion zu entwirren. Manchen geht es um Kritik an der binären Norm und darum, die rigiden Vorstellungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit und Geschlechterrollen zurückzuweisen, die nach der massiven Frauen- und Schwulenbewegung und der beginnenden Trans-Bewegung der 1970er-Jahre in den letzten beiden Jahrzehnten in einer Weise reetabliert wurden, die schon an Barbie-und-Ken-Parodien grenzt. Andere, wie Aleshia Brevard, empfinden das Leben in einem feminisierten bzw. maskulinisierten Körper als ihre einzige Möglichkeit. Für uns alle, ganz unabhängig von unserer Geschlechts- und Geschlechtsrollenidentifikation und unseren sexuellen Praktiken, ist der Körper, sowohl materiell als auch imaginiert, ein Ort der Selbstdefinition, eine physische Gegebenheit von größter Bedeutung. Wir mögen behaupten, die ganze Sache mit dem Körper locker zu nehmen, aber diese Haltung ist nicht besonders realistisch. Wir sind vom ersten wachen Moment des Tages an mit unserem Körper befasst: beim Waschen, Urinieren, Essen etc. Wir können ihn nicht ignorieren.
Geschlechtsangleichungen rufen Kritik und Beunruhigung hervor. Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum sich jemand einer Brustentfernung oder einer Behandlung mit Pubertätsblockern unterzieht. Das erscheint befremdlich und irgendwie bedrohlich, sowohl den Angehörigen einer Generation, die darauf aus war, die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit zu erweitern, restriktive Gendernormen aufzubrechen und perspektivisch die Auflösung der Geschlechterrollen zu erreichen, als auch jenen, die finden, dass »Jungs Jungs und Mädchen Mädchen bleiben sollen«. Wie so vieles sind trans Menschen ein weit geringeres Problem für jüngere Leute, die mit zunehmender Diversität aufgewachsen sind und deren Sexualpartnerwahl fluktuiert. Sie verstehen vielleicht nicht den Zusammenhang zwischen der generellen Körperunzufriedenheit so vieler Menschen und dem drastischeren Wunsch, sich wie das andere Geschlecht zu kleiden oder sich einer chirurgischen Angleichung zu unterziehen. Aber sie wissen, was cisgender Menschen alles tun, um ihre Körperunzufriedenheit zu bezähmen, und dass dazu ebenfalls chirurgische Eingriffe gehören können. Da mein Fokus auf den Problemen des Embodiment liegt,