»Nur weiter.«
»Etwas später trat er in persischen und, nach Beendigung einer unter seiner Oberleitung hergestellten Telegraphenverbindung zwischen den zwei Hauptstädten des Landes, in russischen Dienst. Es war gerade die Zeit, als Skobeleff, dessen du dich von Warschau her erinnern wirst, vor Samarkand seine Triumphe feierte. Später, als der Kriegsschauplatz wechselte, war er mit demselben General vor Plewna. Der wachsende Haß der Russen aber gegen alles Deutsche hat ihm schließlich den Dienst verleidet; er nahm den Abschied und hat das Glück gehabt, alte Beziehungen wieder anknüpfen zu können. Er ist in diesem Augenblicke Bevollmächtigter derselben englischen Firma, in deren Dienst er seine Laufbahn begann, und gerade jetzt mit einer geplanten neuen Kabellegung in der Nordsee beschäftigt. Hat aber den lebhaften Wunsch, in preußischen Dienst zurückzutreten, was ihm, bei Protektion an hoher Stelle, deren er sich erfreut, ganz zweifellos gelingen wird.«
»Und das ist alles?«
»Aber Cécile… «
»Du hast recht«, lachte sie. »Buntes Leben genug. Und doch find ich wirklich, daß einen Draht oder ein Kabel an einer mir unbekannten Küste zu legen (und welche Küste wäre mir nicht unbekannt) schließlich ebenso trivial ist wie Schuldenmachen.«
»Da bin ich doch neugierig, zu hören, was du geneigt sein möchtest, nicht trivial zu finden.«
»Nun beispielsweise den Regensteiner. Der ist doch um vieles romantischer. Und wenn es der Regensteiner nicht sein kann, nun denn, Abenteuer, Tigerjagd, Wüste. Verirrungen… «
»Geographische oder moralische?«
»Beide.«
»Nun, wer weiß, was er davon noch in petto hat. Er konnte mich doch nicht gleich in seine letzten Intimitäten einweihen. Aber sieh nur… «
Und ein Windstoß, der eben in das große, mit Zentifolien dicht besetzte Rondel gefahren war, trieb eine Wolke von Rosenblättern auf Cécile zu.
»Sieh nur«, wiederholte der Oberst, und im selben Augenblicke sanken die herangewehten Blätter, denen das Fliedergebüsch den Durchgang wehrte, zu Füßen der schönen Frau nieder.
»Ah, wie schön«, sagte Cécile. »Das ist mir eine gute Vorbedeutung.«
Und sie bückte sich nach einem der Blätter, um es auf ihre Lippen zu legen. Dann aber erhob sie sich und schritt, in guter Laune St. Arnauds Arm nehmend, auf das Hotel zu.
Kapitel Neunundsechzig
Es war noch eine gute Weile bis Mittag. St. Arnaud, der die Kartenpassion hatte, beabsichtigte, sich in eine Harz-Karte zu vertiefen, Cécile dagegen wollte ruhen und zog, als sie sich auf die Chaiselongue gestreckt hatte, den über ihre Füße gebreiteten Shawl höher hinauf und sagte: »Wecke mich, Pierre. Nicht länger als zehn Minuten.« Und gleich danach schlief sie, die linke Hand unter dem schönen Kopf, während ihre Rechte noch das Tuch hielt. -
Zwei Stunden später erschien man an der Table d'hôte, wo der die Neigungen und Wünsche seiner Gäste beständig scharf im Auge habende Wirt eine Neuplacierung hatte stattfinden lassen. Die St. Arnauds saßen an alter Stelle, Gordon aber, statt gegenüber von Cécile, war links neben diese gesetzt worden, während der Emeritus den erledigten Vis-à-vis-Platz und der in seiner Erscheinung etwas aufgebesserte Privatgelehrte (denn das war er) den Platz neben dem Geistlichen erhalten hatte. Rosa fehlte. Gordon erschien erst, als man die Suppe schon herumgab, und als Soldat ein wenig verlegen über die Verspätung, noch verlegener aber über das Neuarrangement, das er vorfand, wandt‘ er sich mit der Bemerkung an Cécile, »daß er nicht recht wisse, wodurch er sich, der er doch viel mehr ein Sodawasser- als ein Champagner-Gast sei, diese wirtliche Bevorzugung verdient habe« eine Bemerkung, bei der der alte Emeritus jovial und lebemännisch lächelte, während der Privatgelehrte mit einem schon den Ernst der Historie streifenden Interesse seine Hornbrille höherschob und mehr forscherhaft-wissenschaftlich als landesüblich-artig zu Gordon hinüberstarrte. Dieser selbst indes war durch die schöne Frau viel zu sehr in Anspruch genommen, um für das Lächeln des Emeritus oder gar für den Forscherblick des askanischen Spezialisten irgendwie Sinn und Auge zu haben, und gab der Erregung, in der er sich nach wie vor befand, durch allerlei rasche Fragen Ausdruck, die sich auf die kleinen Vorkommnisse der Quedlinburger Partie bezogen, auf die Krypta, den Roland und das Klopstock-Haus, »das« (und Cécile lachte jetzt mit) »nur leider zu grün gewesen sei«. Noch andere Fragen drängten sich, und nur der Äbtissinnen, und speziell des Bildes der schönen Gräfin Aurora, wurde von seiten Gordons mit keinem Worte gedacht.
»Aber ich schwatze soviel«, unterbrach er sich plötzlich selbst, »und versäume darüber die Hauptsache, die, mich nach dem Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen, das mir, auf der Rückfahrt, in der Tat ernstlich gefährdet erschien, denn ich entsinne mich nicht, etwas Ähnliches von Zug erlebt zu haben, nicht einmal auf amerikanischen Bahnen, die bekanntlich in ›frischer Luft‹ ein Äußerstes tun. Oh, wie haß ich diese großen Salonwagen, wo jede Vorsicht, auch die sorglichste, scheitert, weil einem das eine geschlossene Fenster, auf das man einen reglementsmäßigen Anspruch hat, zu rein gar nichts hilft, man bleibt eben immer noch im Kreuzfeuer von sechs anderen, die sich der Kontrolle durch allerhand Zwischenbauten entziehen, eine wahre Perfidie der Wagenbaukonstrukteure. Sahen Sie gestern wohl den dicken kleinen Herrn in dem Nachbarcompartiment? Der war schuld. Mit einem wahren Krach ließ er alle noch geschlossenen Fenster in die Versenkung niederfahren und sah sich dabei so stolz und herausfordernd um, daß mir der Mut entsank, ihn in seinem mörderischen Tun zu hindern. O diese Ventilations-Enthusiasten!«
»Und doch weiß ich nicht«, sagte St. Arnaud, »ob sein Antagonist, der Ventilations-Hasser, nicht vielleicht noch schlimmer ist als der Ventilations-Enthusiast.«
»Aufs letzte hin angesehen, also Extrem gegen Extrem, ganz unbedingt. Zuviel Luft ist immer besser als zuwenig. Aber sehen wir von solch äußersten Fällen ab, so geb ich dem Ventilationsfeinde den Vorzug. Er mag ebenso lästig sein wie sein Gegner, ebenso gesundheitsgefährlich oder meinetwegen auch noch mehr; aber er ist nicht so beleidigend. Der Ventilations-Enthusiast brüstet sich nämlich beständig mit einem Gefühl unbedingter Superiorität, weil er, seiner Meinung nach, nicht bloß das Gesundheitliche, sondern auch das Sittliche vertritt. Das Sittliche, das Reine. Der, der sämtliche Fenster aufreißt, ist allemal frei, tapfer, heldisch, der, der sie schließt, allemal ein Schwächling, ein Feigling, un lâche. Und das weiß der unglückliche Fensterschließer auch, und weil er es weiß, geht er ängstlich und heimlich vor, so heimlich, daß er mit Vorliebe den Moment abwartet, wo sein Widerpart zu schlafen scheint. Aber dieser Widerpart schläft nicht, und mit jenem nie versagenden Mut, den eben nur die höhere Sittlichkeit gibt, springt er auf, läßt seine Zornader anschwellen und schleudert das Fenster wieder nieder, genauso wie der dicke kleine Herr gestern. Sie können zehn gegen eins wetten, der Antagonist von Zug und Wind ist immer voll Timidität, der Enthusiast aber (und das ist schlimmer) voll Effronterie.«
»Sehr gut«, stimmte der Emeritus ein.
»Aber«, fuhr Gordon fort, »da kommen Forellen, meine gnädigste Frau. Das ist denn doch wichtig genug, um unsre Streitfrage wenigstens momentan ruhen zu lassen. Darf ich Ihnen dieses Prachtexemplar vorlegen? Und zugleich etwas Butter von diesem merkwürdigen Buttervogel hier, hier auf der zweiten Schüssel, gelber als gelb und mit zwei Pfefferkornaugen! Oh, sehen Sie, grotesk bis zum Gruseligen. Zu den schlimmsten Ausschreitungen erregter Künstlerphantasie gehören doch immer die der Konditoren und Köche.«
»Was ich mich zuzugestehen gedrungen fühle«, sagte der Langhaarige mit stark wissenschaftlicher Betonung. »Aber, so Sie gestatten, zugleich unter Konstatierung gelegentlicher Ausnahmen. Das deutsche Märchen, über dessen Abstammung zu sprechen uns hier zu weit führen würde… Darf ich mich Ihnen vorstellen? Eginhard Aus dem Grunde… das deutsche Märchen kennt von ältester Zeit her ein ideales Pfefferkuchenhaus, ein Pfefferkuchenhaus nur in der Idee. Dies steht fest. Ist es nun eine konditorliche Geschmackssünde, so wird sich die Sache vielleicht präzisieren lassen, das leibhaftig vor uns hinzustellen, was bis