Ich folgte ihnen durch diverse Flure in einen prunkvollen Raum, der die Bezeichnung ›Kantine‹ wahrlich nicht verdiente. Bodentiefe Sprossenfenster, geschmackvoller Teppichboden, vergoldetes Mobiliar wie aus einem Barockschloss, gigantische Grünpflanzen und monströse Kristalllüster – all das verschlug mir für einen Moment die Sprache. Klassische Musik perlte leise aus verborgenen Lautsprechern; auf den festlich gedeckten Tischen flackerten Kerzen. Nicht schlecht.
Die meisten Tische waren besetzt, einige mit einer Person, andere mit zweien oder mehr.
»Wünsche allseits einen guten Appetit!«, zwitscherte Cäcilie in die Runde, was mit allgemeinem Nicken quittiert wurde.
»Wir haben den da hinten reserviert«, sagte Käthe und deutete auf einen Erker.
Als wir Platz genommen hatten, stellte ich sofort fest, dass die beiden Damen tatsächlich ein Händchen dafür hatten, sich den Tisch mit der strategisch günstigsten Position, sprich: dem besten Blick, auszusuchen. Damit meine ich keineswegs die Aussicht auf Terrasse und Park, oh nein. Von diesem Tisch aus konnte man problemlos den gesamten Raum scannen. Das kannte ich schon von dem Café, in dem ich Cäcilie und Käthe zum ersten Mal begegnet war: Auch dort hatten sie den optimalen Beobachtungsposten bezogen, eine Tatsache, die mir bei der Aufklärung des mysteriösen Todesfalls, der sich dort ereignet hatte, durchaus geholfen hatte. Ich war sicher, dass die Auswahl dieses Tisches kein Zufall war.
»Hier lässt es sich vortrefflich speisen«, sagte ich, »wenn das Essen nur halb so gut ist wie das Ambiente …«
»Ist es, meine Liebe, ist es.« Käthe ließ den Blick durch den Raum schweifen, dann sah sie mich an. »Alle Mitbewohner sind heute anwesend.«
»Alle, die noch leben, wolltest du wohl sagen«, fügte Cäcilie hinzu.
Das hatte gesessen.
Während ich noch damit beschäftigt war, die Detonation dieser wohlplatzierten Bombe zu verarbeiten, kam durch eine Tür am entgegengesetzten Ende des Raums eine junge Frau herein, die einen Servierwagen schob. Sie trug einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse und ein spitzenbesetztes Schürzchen. Sie ging von Tisch zu Tisch, stellte Suppenteller vor den Gästen ab und schöpfte aus einer Terrine klare Boullion hinein. Nachdem sie auch uns die Suppe serviert hatte – wir waren die Letzten –, verschwand sie wieder, vermutlich in der Küche.
»Das war Susi«, sagte Käthe. »Eine sehr freundliche Person. Immer gut gelaunt und hilfsbereit. Alle mögen sie. Aber man weiß ja nie.«
»Nein, das tut man wohl nicht«, murmelte ich verdattert. »Aber was meinte Cäcilie vorhin mit …«
»Später, nicht jetzt«, fiel Käthe mir ins Wort. »Hör einfach zu. Also: Der alte Herr am Nebentisch ist Egbert Fröhlich.«
Aus dem Augenwinkel registrierte ich vage eine hagere Gestalt mit Glatze und weißem Kinnbart. Alter Herr, soso. Er wirkte keine Minute älter als die munteren Schwestern – kaum vorstellbar, dass sie sich selbst als ›alte Damen‹ bezeichnen würden.
Meine köstliche Boullion – es war mir gelungen, einen Löffel zu probieren – wurde kalt, während Käthe mir im Stakkato kurze Informationen zu allen Anwesenden vor den Latz knallte. Cäcilie löffelte in aller Seelenruhe ihre Suppe, aber mir rauchte binnen kürzester Zeit der Kopf. Hermine Sanders, die ehemalige Oberstudienrätin, Albert Küppersbusch, Admiral a. D., Berta und Paul Mönchshausen, Fabrikanten im Ruhestand, Olga Krasnaja, Ex-Primaballerina an irgendeiner Staatsoper … Hilfe!
»Stopp«, flüsterte ich irgendwann, »wer soll sich das denn merken? Und warum erzählst du mir das alles?«
»Wirst du gleich erfahren, wenn wir unter uns sind«, erwiderte Cäcilie gleichmütig. »Du wirst staunen.«
Ich staunte ja jetzt schon.
Und in mir keimte allmählich der Verdacht, dass die beiden Damen, mit denen ich gerade zu Mittag aß, einen Kriminalfall witterten. Jemand, der nicht mehr lebte … Diese Formulierung allein sprach Bände. Allerdings jemand, der vermutlich ziemlich betagt gewesen war, und manchmal starben alte Leute halt. Daran war in den allermeisten Fällen nichts geheimnisvoll. Oder kriminell. Ich seufzte innerlich, denn genau das würde ich ihnen wohl gleich schonend beibringen müssen.
»Du musst dir auch gar nichts merken«, sagte Käthe, »wir wollten nur, dat du alle mal in natura siehst. Wir haben für dich natürlich Fotos von sämtlichen Leuten, selbstverständlich auch vom Personal. Außerdem einige Informationen über jeden und eine genaue Liste, wo jeder unserer Mitbewohner in diesem Haus residiert.«
Na, da bin ich aber beruhigt, dachte ich amüsiert.
Selbst wenn nichts dahintersteckte, würde ich Dennis immerhin einiges zu erzählen haben, wenn ich später noch zu ihm fuhr.
Käthes weiteren Ausführungen hörte ich nur noch mit halbem Ohr zu, sah mir die jeweiligen Personen dennoch kurz an. Alle machten einen recht wohlhabenden Eindruck, waren gepflegt und hochwertig gekleidet. Nur einer – Hansi Sommer, Ex-Schlagersänger – fiel durch sein gleichermaßen exzentrisches wie seltsam altmodisches Äußeres aus dem Rahmen: Sein blond gefärbtes Haar war beinahe schulterlang, und er trug einen weißen Anzug mit absurd breitem Revers sowie ein violettes Satinhemd. Ich wusste, Dennis würde das Outfit lieben.
»Er lebt ein bisschen in der Vergangenheit«, erzählte Käthe, »und manchmal gibt er Konzerte für uns.«
»Manchmal?«, raunte Cäcilie mit gehobenen Brauen. »Ein wenig zu häufig für meinen Geschmack. Zumal er beleidigt ist, wenn man nicht erscheint. Dat sind Pflichtveranstaltungen. Dafür müssten wir eigentlich Geld kriegen.«
»Gönn ihm doch sein kleines Vergnügen«, sagte Käthe. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Immerhin war er mal recht erfolgreich.«
Sie unterbrach ihren Vortrag, als der nächste Gang serviert wurde: Rinderbraten mit kräftiger Sauce, Kartoffelgratin und grüne Bohnen.
Als hätte sie mir nicht gerade ein ganzes Bündel geheimnisvoller Informationen vor die Füße geworfen, schnitt Käthe unvermittelt ein komplett anderes Thema an.
»Und? Wie läuft es mir dir und dem schillernden jungen Mann? Hoffentlich immer noch verliebt wie am ersten Tag?«, zwitscherte sie und wechselte einen schelmischen Blick mit Cäcilie.
Das konnten sie gut: Blicke miteinander tauschen. Mal schelmisch wie jetzt, mal beredt, mal kaum deutbar. Ganze Unterhaltungen schienen sie völlig ohne Worte zu führen. Das spielte sich vermutlich ein, wenn man so eng miteinander verbunden war.
»Ich bin sehr glücklich mit Dennis«, sagte ich lahm, denn mein Gehirn war noch immer mit der Frage beschäftigt, welche Geschichte sie mir später wohl auftischen würden.
»So ein ritterlicher Mann«, flötete Cäcilie mit leuchtenden Augen. »Ich habe gleich gewusst, dat ihr zusammengehört. Nicht wahr, Käthe? Ich hab gleich gesagt: Die zwei gehören zusammen. Passt wie Arsch auf Eimer, hab ich gesagt. Stimmt doch, Käthe? Dat hab ich gesagt.«
»Ja, das hast du.« Käthe rollte dezent mit den Augen. »Aber ich wäre dir ausgesprochen dankbar, wenn du stattdessen ein Wort wie ›Gesäß‹ verwenden würdest, meine Liebe.«
Ich schmunzelte. Wie unterschiedlich sie sich ausdrückten: Käthe stets makellos und gewählt, während von Cäcilie immer mal recht handfester Ruhrpottslang zu hören war. Eine über achtzigjährige Dame mit weißen Löckchen, pfirsichfarbenem Kaschmir-Twinset und Perlenkette, die eine Formulierung wie ›Arsch auf Eimer‹ benutzte. Ich fand das zum Brüllen. Käthe offenbar weniger.
Kein Treffen mit den beiden, ohne dass sie Hymnen auf Dennis’ Heldenmut sangen und die Tatsache beschworen, dass sie vom ersten Moment an gewusst hätten … Nun ja. Auch Dennis gegenüber machten sie aus ihrer Bewunderung für ihn keinen Hehl, zusätzlich punktete er bei ihnen mit vollendeten Manieren, was sie großzügig über seine exzentrischen Outfits