Mut zur Sünde. Max Kretzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Kretzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711502853
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das getan hat, das weiss ich bestimmt. Die hat es mir selbst erzählt. Sie hörte nämlich den Don Juan mit d’Andrade und war rein futsch in ihn.“

      „Claire Rüter! Hör doch nur, Mammi. Sie hat schon Liebesbriefe geschrieben“, rief Annemarie abermals aus und drehte pfiffig das Vogelgesicht, während sie unter dem Tisch mit den Beinen strampelte.

      „Dann hat sie es gewiss als dummes Gänschen getan und verdiente eine ordentliche Lektion von ihrer Mutter“, sagte Frau Frobel ruhig.

      „Allerdings war sie noch ein dummer Backfisch,“ sagte Edda wieder, die ganz verkrümelt zwischen Mutter und Schwester sass. „So wie du zum Beispiel, Anne.“

      „Na, das verbitt’ ich mir nun doch“, sagte die Jüngste durchaus entrüstet. „Weisst du! Ich kann schon mehr Staat machen als du.“

      Gerhard brachte verschiedene Lachtöne hervor, ohne aber die Worte zu finden, weil er nach einer bedeutsamen Bemerkung suchte. Endlich aber kam doch seine Meinung zum Vorschein. „Was sagen Sie dazu, Frau Doktor? Sind das nicht ganz moderne Mädels?“

      „Dazu gehört wohl noch ein bisschen mehr“, erwiderte Frau Rumpf mit ihrer kalten Gemessenheit.

      „Das meine ich auch“, sagte Frau Frobel bestimmt. „Sie plappern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das ist die einzige Entschuldigung. Lassen wir das Thema ruhen.“

      Zum Glück kam auch Gerhard darauf nicht mehr zurück, denn seine Gedanken, soweit er welche hatte, jagten wieder, leider aber kreuz und quer. Er hatte plötzlich entdeckt, dass seine Handmanschetten neuerdings nicht mehr die mittlere Steifheit zeigten, wie er sie sich in letzter Zeit gewünscht hatte. Und so liess er sich darüber mit Frau Doktor in eine längere Erörterung ein, die fast einer wichtigen Zeitfrage glich. Er beklagte sich wie ein Kind, das immer dieselben Worte gebraucht. Alsdann fiel ihm ein, dass er noch ins „Weihenstephan“ an der Potsdamer Brücke müsse, wo er an diesem Abend seinen Stamm hatte. Alle wussten das zwar bereits, aber es gab ihm doch wieder Gelegenheit, seiner Mutter auseinanderzusetzen, wer alles da sei: drei Korpsbrüder, zwei Leutnants auf Kriegsakademie, mehrere Zivilisten und besonders Herr von Eixling, „sein Freund“, der neuerdings seine eigenen Pferde laufen lasse. Dieser Herr von Eixling kehrte immer wieder, sobald er auf die Gesellschaft zu sprechen kam.

      So waren sie bald fertig mit der Tafelei. Und als man sich dann erhoben hatte und Frau Frobel auf Minuten allein war, kam ihr die Bemerkung der Jüngsten zum Bewusstsein: Ja, es war immer langweilig, sobald Günther nicht am Tische sass. Heute hatte sie es mehr denn je empfunden.

      IV

      Zwei Tage später fuhr Frau Frobel ins Theater des Westens. An diesem Abend machte es sich gerade so, dass ausser den beiden Mädchen niemand von der Familie zu Hause war: und so konnte sie allen Fragen entgehen und das Coupé mit den Karossiers Punkt halb acht vorfahren lassen, ohne auf Gesellschaft rechnen zu brauchen. Am anderen Tage konnten sie ruhig erfahren, wo sie gewesen sei; nur heute wollte sie allein sein, — allein sein mit der herben Sehnsucht einer gealterten Frau, die mit geschlossenen Augen über eine morsche Brücke fährt, nicht wissend, was passieren wird. So wenigstens malte sie sich dieses Bild aus, als sie endlich, in ihren warmen Abendpelz gehüllt, in der Ecke des Wagens sass und die schwarzen Bäume des Ufers an ihr vorüberhuschten. Die Fahrt ging den langen Kanal entlang, dem Kurfürstendamm zu, wo dann der Wagen links abzubiegen hatte.

      Was wollte sie eigentlich? Weshalb fuhr sie hin? Warum begab sie sich auf diese Brücke, die sie doch nur einem öden Ufer mit abgestorbenen Resten entgegenführen musste?! Frau Frobel, von einem Eingeweihten gefragt, hätte nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte; sie war eben nur einem Entschluss gefolgt, den man ausführt wie hundert andere, nur um sich selbst zufriedenzustellen. So sagte sie sich, und so wollte sie es sich einreden. Aber während sie sich auf weichen Gummirädern wiegte und ihr Auge immer wieder hinaus irrte in den dunklen Winterabend ohne Schnee, wo die Lichter im schwarzen Wasser aufblitzten und wieder verschwanden, hin und wieder eine weisse elektrische Kugel in die Finsternis hineingellte, spukhaft erleuchtete Fenster am anderen Ufer vorüberzogen, tiefe Schatten unter klaffenden Brücken die Unterwelt gähnen liessen, Wagenflämmchen kümmerlich dahinschossen, ohne dass man kaum die Pferde vor ihnen sah, und menschliche Schatten vorüberflatterten, — da musste sie an eine ähnliche Fahrt vor vielen Jahren denken, fast denselben Weg entlang, aber nicht im eigenen Wagen, sondern in einer Droschke zweiter Klasse, die ihr bei ihrem Sündengang gerade über den Weg gelaufen kam.

      Damals war es im Mai beim warmen Sonnenstrahl eines Spätnachmittags. Die ganze Natur stolzierte im Frühlingsstaat; Bäume und Sträucher waren mit zartem Grün besteckt, die Bläue des Himmels wiegte sich im Wasser, die Nachtigall flötete ihr Lied hinaus, und die Leute lachten in die Welt hinein. Mutter Erde liess überall die frischen Triebe spriessen, und die Menschen fühlten sich mitgerissen davon, wie sie, Ernestine Frobel, sich hinreissen liess, dem Lockrufe desselben Mannes zu folgen.

      Damals zwang sie ihr heisser Sinn, heute aber nur ihr Verstand. Es musste so sein, denn ihr Herz schlug ruhig, nicht wie in jener Stunde unter dem stürmischen Drang sehnlichster Erwartung. Oder war es nicht einmal der Verstand, der sie hinführte, um sich selbst auf ihre Festigkeit zu prüfen, sondern nur die Neugierde, zu sehen und zu hören, was eine ausgebaute Ruine noch für einen Eindruck machte? Oder vielleicht gar nur die Klugheit, mit der man einer Gefahr begegnen will?

      Frau Frobel bewegte sich unruhig und warf sich zur Abwechselung in die andere Ecke des Wagens. Ja, so war es, ihr Gefühl sagte es ihr: es war nur die Klugheit, der sie folgte; vielleicht war auch die Neugierde dabei, dann aber doch nur in geringem Masse.

      Sie sah noch den Lützowplatz im weissen Schimmer seiner vielen Laternen an sich vorüberhuschen, dann schloss sie die Augen, um sich einen Seelenschlummer vorzutäuschen. In ihren Gedanken aber, die unheimlich munter blieben, kehrte immer wieder die Frage zurück: Weshalb fährst du hin, warum hast du dich in deinem Gleichmut stören lassen? Und plötzlich fühlte sie ihr Herz so unruhig schlagen, dass sie nach Luft schnappte und den Pelz aufriss, weil ihr unheimlich warm wurde. Aber es war ein Zustand, den nur ihre Einbildung geschaffen hatte: die Angst hatte sie wieder aufgestört, die Furcht vor etwas Niederträchtigem, das ihr begegnen könnte. Deshalb folgte sie seinem Rufe, deshalb nur allein! Und sie kam sich wie eine Spionin vor, die den Gegner umschleichen will, um aus seiner Miene auf seine Angriffsfähigkeit zu schliessen.

      Das war das Tragische in ihrem Leben: dass sich die Liebe des anderen in Feindschaft verwandelt hatte; nicht in jene offene, für die grosse Naturen ihr Leben einsetzen können, sondern in eine kleinliche und niedrige die im geheimen die Seele mordet und sie ohne Aufschrei verbluten lässt.

      Und Frau Frobel hätte doch so gern einmal aufgeschrieen, um sich Luft zu machen im namenlosen Leid.

      Ein Zug donnerte über die eiserne Stadtbahnbrücke, unter der der Wagen hindurchfuhr, und gleich darauf war sie im Theater. Der livrierte Türhüter sprang hinzu, öffnete den Schlag und half ihr höflich hinaus. Sonst sass noch der Diener mit auf dem Bock, um eilig herunterzuspringen und seine Pflicht zu tun, — heute hatte sie ihn zu Hause gelassen, um überflüssiges Aufsehen zu vermeiden. Rasch rief sie dem Kutscher, der mit der Hand am Hut salutierte, ein paar Worte zu; dann rauschte sie die Stufen hinauf und durch die Vorhalle, vorbei an den wenigen Menschen, die dort umherstanden. Denn es war noch früh, und man drängte sich nicht gerade zu diesem Theater, das als Kunststätte in diesem Jahre nicht auf der Höhe stand. Und obendrein befand man sich im Weihnachtsmonat, der die Menschen auf andere Gedanken brachte.

      An der Garderobe angelangt, hatte sie es nicht mehr so eilig. Langsam legte sie ihren Pelzmantel ab, und ebenso gemächlich löste sie das Kopftuch. Dann streifte sie sich die wollenen Überhandschuhe von den zarten, weissen Glacés, steckte sie in den Mantel, nahm die silberne Panzertasche, die ihr den Pompadour ersetzte, und trat vor den nächsten Spiegel, um sich das Haar ein wenig glatt zu drücken. Eigentlich aber geschah es nur, um sich rasch einer Musterung zu unterwerfen. Sie war keine eitle Frau, war es auch nie gewesen; heute jedoch hatte sie die Empfindung, als müsste sie sich noch einmal besonders prüfen, bevor sie sich unter das Publikum mischte. Eine Art Selbstkritik lockte sie dazu, der sich Frauen so gern unterwerfen, die sich ihrem einstigen Geliebten nahe fühlen und