Mut zur Sünde. Max Kretzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Kretzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711502853
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da liegen die roten Dinger, obendrein zerrissen! Ei, ei, das sollte er wissen, dieser kostspielige Schützling von einst.“

      „I—a, das sollte er wissen“, sagte Frau Ernestine gedehnt, während sie einen Blick in die Zeitung warf, um ihre Gleichgültigkeit noch mehr zu bestätigen. Nicht aber konnte sie ihre innere Erregung bemeistern, denn ihre Brust ging stärker als zuvor. Eigentlich hätte sie lachen mögen über die Zumutung ihres einstigen Freundes, sich ihm dicht unter seiner Nase am Orchester zu präsentieren, damit er jede Regung in ihrem Gesicht verfolgen könne und sich sagen dürfe: Sie ist hier, sie hat noch Interesse für mich, sie hat mich noch nicht ganz vergessen . . . Das war einmal. Heute lag ein Abgrund zwischen ihnen, vor dem sie zurückschreckte, denn aus der Tiefe stiegen ekle Dünste empor, die er durch sein schmieriges Verhalten bereitet hatte. Und wenn sie doch noch Neigung zeigte, ihn einmal zu sehen, unbemerkt von ihm, — so folgte sie nur der Neugierde, nur ihr allein.

      „Also ists diesmal nichts mit dem Sprichwort: Alte Liebe rostet nicht“, sagte Herr Frobel wieder, durchaus gemütlich. Früher, vor Jahren, als Emmerich noch nicht der tote Mann und ihr Interesse für ihn noch reger war, hatte er sie öfter damit geneckt, und nun erfasste ihn wieder der Spass dazu.

      Ernestine warf die Lippen auf. „Nein, damit ist nichts mehr, mein Bester.“ Unaufhörlich überflog sie die Abendzeitung, als interessiere sie diese Unterhaltung nur so nebenbei.

      „Er hat sich eigentlich auch nicht danach benommen“, sagte Frobel wieder, blieb dann stehen und bemühte sich, einige wohlgelungene Rauchringe aus seinem Munde zu stossen. Und als er von diesem Spiel genug hatte, trabte er wieder durchs Zimmer und fuhr fort: „Weisst du, liebes Tinchen, wenn du schon keine Lust hast, — ich möchte mir den alten Wunderknaben doch noch mal ansehen, oder eigentlich anhören. Na, beides zusammen. Bin sehr neugierig auf diese Ruine. Willst du?“

      „Vergeude doch deine Zeit nicht“, fiel ihm Ernestine ins Wort.

      Und ihr Gatte ging sogleich darauf ein. „Eigentlich hast du recht. Man ärgert sich dann noch über sein Geld. Schon genug, dass er uns immer noch in der Tasche liegt. Dir wenigstens. Entschuldige, entschuldige . . . Man liest es ja nachher auch in den Blättern. Wenn er uns nur keinen Besuch macht . . .“

      „Er wird doch nicht“, sagte Frau Frobel mit demselben Gleichmut, aber sie bewegte sich unruhig auf dem Sessel. Noch weniger als zuvor las sie jetzt, denn er hatte plötzlich etwas berührt, woran sie schon mit Schrecken gedacht hatte.

      „Als was tritt er doch gleich auf? Soeben habe ich es noch gewusst“, sagte Herr Frobel wieder, blieb aufs neue stehen und sann nach.

      „Interessiert mich gar nicht, lieber Dietrich.“

      Herr Frobel gab sich auch keine Mühe mehr, und da es ihm diesmal wirklich schwer wurde, sein Gedächtnis zusammenzusuchen, so liess er die Kapsel seiner goldenen Uhr springen, tat nun ungemein eilig und verabschiedete sich von seiner Frau, indem er wiederum galant ihre Hand an seine Lippen zog. Dann stolzierte er von dannen. Er hatte aber kaum die Tür hinter sich, als er den Kopf wieder hereinsteckte, denn sein Gedächtnis war ihm inzwischen gekommen.

      „Du, ich hab’s jetzt“, rief er ihr zu. „Er singt den Herzog in Rigoletto. War mal seine Glanzrolle im Opernhaus, weisst du noch? Den wird er jetzt hübsch verzapfen . . . Nochmals gute Nacht. Bon soir.“

      Dann klappte die Tür wieder.

      III

      Frau Frobel hatte das Zeitungsblatt sinken lassen und sass nun unbeweglich da, die Hände im Schoss gefaltet, den Blick verloren vor sich gerichtet auf irgend etwas, was sie sah und wieder nicht sah, weil ihre Augen weiter gingen: über die ganze Umgebung hinweg, hinein ins Reich der geistigen Vorstellungen. Kaum hatte sie noch ihres Mannes letzte Worte gehört. Der Harmlose! Wenn er wüsste, weshalb sie diesen Platz hier niemals aufgeben wollte, diesen Sitz im Zimmer, an den alles herantreten musste, was sie berührte; wenn er auch nur ahnte, dass die Furcht sie hier zur täglichen Wache trieb, die Furcht eines ewig zitternden Weibes bei dem zehrenden Gedanken an die geheime Schmach ihres Lebens!

      Die stattliche Frau Frobel stöhnte auf, erhob sich und ging mit gesenktem Haupt träge durchs Zimmer. Und während sie diesen Gang machte, sah sie wieder den Abend vor zehn Jahren, wo Emmerich hier vor ihr stand und sie mit versteckten Anspielungen an ihren Sündengang erinnerte, und zwar — es wurde ihr nur zu klar — nur zum Vorteil seines Beutels. Damals hatten diese üblen Gewohnheiten begonnen, und was andere für unbegreifliche Wohltaten hielten, war nur ein Blutopfer, das sie brachte, dem Zwange folgend, nicht dem eigenen Willen. Und sie sah ihn wieder gehen, gleich einem liebenswürdigen Schuft, der in seinem Vorgehen nichts Besonderes fand, vielmehr nur sein persönliches Recht darin erblickte, von ferne mitzugeniessen an einem glänzenden Leben, das ihm versagt bleiben sollte, trotzdem er es hatte mit versüssen helfen. Und sie sah sich danach wie zusammengebrochen auf den Stuhl sinken und hörte sich heisse Tränen weinen, die stillen, heissen Tränen einer doppelt betrogenen, tief verkannten Frau.

      Und als das alles jetzt in Ernestinens Seele wieder erwachte, war sie nahe daran, in die gleiche Stimmung zu verfallen; aber sie wollte sich heute nicht unterkriegen lassen, nicht von diesen jämmerlichen Gefühlen, die nach Entlastung schrieen. Weiter tragen diese Bürde, diese sich selbst auferlegte schwere Seelenlast, das sollte nach wie vor der Leitspruch ihres Daseins sein. Um ihres Sohnes willen!

      Stark war, wer sich selbst bezwang.

      Und Frau Frobel bezwang sich. Sie holte aus ihrer Kleidertasche den Brief Emmerichs hervor, in dem er sie mit pathetischen Worten an die alte, ewige Freundschaft erinnerte und sie bat, seiner „künstlerischen Wiedergeburt“ beizuwohnen, ging an den Majolikaofen in der Ecke, schraubte ihn auf, warf das zusammengeknickte Papier in die Asche und liess es durch ein brennendes Streichholz so lange in Flammen aufzüngeln, bis nichts mehr davon übrig geblieben war. Dann nahm sie die Feuerzange, vermengte noch die Asche und verschloss den Ofen mit derselben Sorgfalt. Und als sie sich dann wieder erhob und tief Atem holte, kam sie sich im Augenblicke nicht nur wie erleichtert vor, sondern auch wie gesäubert von etwas Unreinem, das sie wider Willen mit herumgetragen hatte.

      Noch einmal hielt Frau Frobel Umschau im Zimmer auf ihrem Schreibtisch. Sie nahm die Zeitung, drehte die Arbeitslampe ab, ging bis zur Wohnungstür und schaltete die letzte Deckenflamme aus, was sie erst tat, als ihr schon das Licht aus dem anderen Zimmer entgegenflutete. Dann, verriegelte sie auch hier die Tür von innen und setzte zugleich den Knopf der elektrischen Klingel dreimal in Bewegung, was das Zeichen für ihre Ankunft war, wonach denn gewöhnlich alles rebellisch wurde.

      Frau Doktor Rumpf, die Hausdame, wurde sichtbar, um noch rasch einige Anordnungen für die Abendtafel entgegenzunehmen. Sie war die alleinstehende Witwe eines vermögenslosen Arztes, eine angenehme, noch nicht alte Dame mit offenem, freundlichem Wesen, aber ohne jede Leidenschaft. Als Frau Frobel einsah, dass sie sich schwer vom Geschäft werde lossagen können, suchte sie nach einer gebildeten Stütze, und so kam sie auf die ihr so warm empfohlene „Frau Doktor“, wie man sie allgemein im Hause nannte, die besonders kinderlieb war und nun schon seit einem Jahrzehnt sich als das Muster einer klugen und treuen Helferin in Alltagsdingen bewährt hatte.

      „Es ist heute ein bisschen spät, hoffentlich ist die Gesellschaft nicht unruhig geworden“, sagte sie und ging mit raschen Schritten voran durch den grossen, in Herrenzimmerstil ausgestatteten Durchgangsraum, der in den bis in den Garten hineingebauten Seitenflügel führte. Öde und still lagen die Prunkräume, durch deren offene Türen man hinten einen schwachen Lichtschimmer erblickte, der aus dem Musiksalon kam, wo der Bechsteinflügel etwas suchend bearbeitet wurde.

      „Es ist Edda, die sich den Rigoletto vorgenommen hat“, sagte Frau Rumpf. „Herr Frobel erzählte nämlich vor seinem Fortgehen, dass nächstens ein alter Bekannter der Familie darin auftreten werde. Und da hat sie sich gleich darüber hergemacht.“

      „Was mein Mann nicht alles anstellt“, sagte Ernestine ärgerlich.

      „Herr Günther ist gleich weggeflitzt, ohne was genossen zu haben“, fuhr die andere fort. „Er hatte es wieder sehr eilig.“

      „Ja, er hat mich darum gebeten“, sagte Frau Frobel