Turtle und ich machen uns bereit für Tag vier, rollen unser Zeug von unserem Zeltplatz mit seiner herrlichen Aussicht zum Anlandesteg runter, trinken vor der Abfahrt noch schnell einen Kaffee in einem kleinen Laden am Strand und besprechen den Tag. (BILD 18) Als wir eine Viertelstunde später zurück am Hafen sind, ist mein Brett verschwunden. Panik breitet sich in mir aus: Jemand hat das Brett geklaut. Es liegt in einem Lkw auf dem Weg zum Verkauf. Jemand macht sich einen Scherz. Jetzt ist die Pilgerreise vorbei. Dieses Abenteuer soll doch nicht geschehen. Tausend solcher Gedanken rasen durch meinen Kopf, anstatt an das Naheliegendste zu denken: Das Wasser ist gestiegen, und mein Brett ist abgetrieben. Ich renne also um den Steg herum und sehe es brav und friedlich vor einem Ponton mit Fischerbooten treiben. Turtle runzelt kurz die Stirn, lächelt, steigt auf sein Brett und rettet die Situation in seiner ausnahmslos entspannten Art.
Noch sind wir völlig unerfahren in diesem Abenteuer. Wie viele Fehler liegen noch vor uns? Wie viel werden wir dazulernen? Wie häufig werden wir über uns selbst den Kopf schütteln? Das Schönste am Reisen ist, dass man nicht weiß, was man alles nicht weiß. Auf uns wartet ein ruhiges, friedliches, fast freundschaftliches Meer. An Stand-up-Paddeln ist zwar nur kurz zu denken, da die Biskaya weiterhin extrem schwabbelig und das Stehen auf Dauer viel zu anstrengend ist, aber es ist fast windstill und die Wellen rollen lang von der Seite.
Vor uns springt ein riesiger Fisch aus dem Wasser. Sofort machen wir unsere Angelleinen klar – einfache Schnüre mit Plastikfischen daran. Diese Köder lassen wir zu Wasser, um sie hinter uns herzuziehen. Die spartanischste und älteste Art, einen Fisch zu fangen. Heimlich hoffe ich allerdings, dass lieber kein Fisch anbeißen möge. Denn wie sollen wir den an Bord bekommen? Wie sollen wir ihn töten? Mit dem Paddel erschlagen? Wie transportieren? Wie zubereiten? Wir paddeln fünf Stunden, und alle Fische dieses Ozeans ignorieren unsere Köder. Wir beschließen, von jetzt an immer mit Köder zu paddeln. Es wäre aus Anglersicht fast unanständig, dieses Meer nicht um ein paar Fische zu erleichtern.
Das Paddeln geht so einfach heute, dass zwischendurch überwältigende Glücksgefühle in mir aufsteigen. Ich bin auf dem Wasser, was mich per se glücklich macht, sehe rechts von mir das unendliche Meer und links die dramatischen Berglandschaften des Baskenlandes. Aber ich traue dem Braten nicht – nicht auf einer Abenteuerreise. Ich weiß, wie schnell sich das Blatt wenden kann, denn ich habe schon so viel auf meinen Reisen erlebt. Da wir heute so großartig in Form sind, lassen wir unser angepeiltes Ziel, das Dörfchen Deba, links liegen und paddeln eine Bucht und eine Stunde weiter nach Mutriku. Der Hafen hier ist mehr eine Badeanstalt als Bootsanlegestelle. In riesigen Betonbecken spielen Dutzende von Kindern, die Erwachsenen liegen entspannt auf der Kaimauer und genießen den Freitagabend.
Es gibt zwei Welten an der Küste: die Welt des Meeres und die Welt des Landes. Beide berühren sich, werden aber nie eins. Sie werden immer getrennt bleiben und einen nicht enden wollenden Kampf ausfechten. In den meisten spanischen Küstenstädten sollen gewaltige, bis zu zehn Meter hohe Betonmolen das Land vor der Gewalt des Meeres schützen. Diese Wellenbrecher sind alle gleich gebaut und sehen aus, als hätte sie der Architekt aus Mordor, dem Sitz des Bösen im Herrn der Ringe, entworfen: Sie ragen Hunderte von Metern ins Meer hinein, sind aus dunklem Stein gebaut und bilden schlichte, klotzige Mauern, die der Wucht von sekündlich herandonnernden, mehrere Schwimmbecken fassenden Wellen standhalten müssen. (BILD 19) Diese Ungetüme wurden sämtlich mit EU-Mitteln gebaut und sollten Spaniens Dörfern mehr Schutz und gleichzeitig mehr Touristen bescheren. Doch die Touristen bleiben in den kleinen Orten wie Mutriku aus, ganze Restaurantzüge stehen leer und verfallen, Dutzende von Häusern stehen zum Verkauf und die Gebäude rund um den Hafen dürften dem nächsten Wintersturm nicht standhalten.
Noch ist mir Spanien ein Rätsel. Ich kenne Frankreich teilweise besser als Deutschland, da ich dort Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich liebe Italien, die Sprache, die Mentalität, das Essen. Aber Spanien? Zwar unter derselben südeuropäischen Sonne, ist die Sprache jedoch so hart wie das Leben, das Land schwer zu bestellen und die Küste so schroff, dass man sich gar nicht ausmalen mag, wie viele Boote hier schon zerschellt sind. Die Küstenorte scheinen sich dem Land anzupassen und wirken uralt, uneinnehmbar, unbezwingbar – aber eben nicht mehr zeitgemäß. Spanien scheint auf widerspenstige Art an seinen Traditionen festhalten zu wollen, selbst, wenn es seinen Untergang bedeutet. Auch die Menschen hier im Baskenland sind nicht per se freundlich. Zumindest die Kellnerinnen und Kellner würde ich als grob und schroff bezeichnen. Aber vielleicht ist es auch der Typ »raue Schale, weicher Kern«.
Auf einer nach EU-Norm angelegten Hafenterrasse spielt eine Band. Zwei junge Baskinnen singen traurige, berührende Lieder auf eine Weise, die mir Tränen in die Augen treibt. Wie kann eine Kultur so traurig sein? So tief und so verzweifelt? Fast brutal archaisch. Und wie können die Sängerinnen dabei so verzweifelt und gleichzeitig glücklich lächeln? Ist das hier noch Europa?
Wir fragen den Kellner, was er uns über das Baskenland erzählen kann. Irgendwie kommt uns das hier alles anders vor als im Rest des Kontinents. »Hier sprechen fast alle Baskisch und Spanisch«, erklärt er uns in flüssigem Englisch. »Die baskische Provinz erhielt Ende der 1970er-Jahre einen Autonomiestatus, sodass es sich recht frei von Madrid selbst regieren kann. Vielen reicht das aber noch nicht. Vor allem den Nationalisten. Sie wollen, dass das Baskenland ein eigener Staat wird. Aber das können die vergessen. Das wird Madrid nie und nimmer zulassen.« Er lacht und hält die Hände in die Luft. »Kann man nichts machen.« »Und wie sieht das mit der ETA aus? Gibt es die noch?«»Die ETA?«, fragt er und legt Sorgenfalten auf. »Das waren Schweine. Sie wollten die Loslösung von Spanien mit Gewalt erzwingen und haben das Gegenteil erreicht. Zum Glück gibt es die ETA nicht mehr.« »Glaubst du, dass ihr irgendwann einen eigenen Staat habt?«»Keine Ahnung. Es wäre schön. Wir haben die älteste Sprache Europas, eine einzigartige Kultur und nur sehr wenig mit dem Rest des Landes gemein. Warum sollten wir nicht ein freier Staat werden? Gleichzeitig: Wollen wir nicht lieber ohne Grenzen leben und diese Vielstaaterei aufheben?« Turtle und ich nicken zustimmend. Ich frage mich schon lange, warum sich jemand unbedingt durch Nationalität, Glaube oder Tradition vom Rest der Menschheit absondern will. Sind wir nicht langsam so weit, dass wir uns über unsere Gemeinsamkeiten definieren sollten und nicht über unsere Unterschiede?
Wir lauschen den Menschen am Nachbartisch. Die Sprache ist faszinierend und scheint so gar nichts mit romanischen oder germanischen Sprachen zu tun zu haben. Angeblich sprechen sie hier so, wie die Menschen vor Tausenden von Jahren. Neben Turtle und mir sitzen zwei Franzosen und lauschen ebenso ergriffen der fremden Musik. In einer der musikalischen Pausen kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Sie sind beide 85 Jahre alt, segeln jedes Jahr für drei Wochen auf dem Atlantik herum und schwören, dass sie das erst lassen werden, wenn einer von beiden stirbt. »Könnte unser letzter Törn sein«, sagt der eine und lacht. Turtle fragt nach ihrem Geheimnis, so alt zu werden und dabei so fit zu bleiben. Der etwas lautere, derbere Typ meint, das liege am Alkohol. Der andere, bescheiden wirkende, sagt: »Zu versuchen, ein glückliches Leben zu führen. Das ist der Trick. Nichts ist gesünder.« »Wie geht das?«, frage ich. »Dafür gibt es kein Patentrezept. Vielleicht wird es uns in die Wiege gelegt, ob wir ein glückliches Leben führen oder nicht.«»Was waren Sie von Beruf?«, frage ich weiter. »Arzt. Nichts hätte mich glücklicher machen können.«
Als wir den beiden erzählen, dass wir mit SUPs die spanische Nordküste entlangpilgern, erklären sie uns für verrückt. Aber wir seien ja jung, sähen trainiert aus und schienen die Sache durchziehen zu wollen. Das seien eigentlich gute Voraussetzungen. Dann verabschieden sie sich in der Hoffnung, uns morgen auf dem Wasser zu begegnen.
5. TAG: MUTRIKU BIS MUNDAKA
Pilgerreisen dauern heutzutage nicht mehr Jahre. Mittlerweile sind wir nur noch ein paar Wochen, vielleicht Monate unterwegs und haben das Ziel immer klar vor Augen. Wir nutzen Google Maps und alle möglichen Apps, um uns bloß nicht zu verlaufen, keine lästigen Überraschungen zu erleben oder gar jenseits unserer Pläne zu pilgern. Wir halten permanent Kontakt zu den Lieben in der