»Nur etwas Milch«, kam es unsicher aus dem Büro.
Frost lehnte am Türrahmen, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, und beobachtete die Frau, als diese die Handschuhe auszog und ihren Schal löste. Sie sah angespannt aus, was nicht unbedingt auf die Kälte zurückzuführen war. Ihre Bewegungen waren fahrig, ihre Augen huschten unruhig durch den Raum. Schlichte, aber gut geschneiderte Kleidung. Tinte an den Fingern, als schriebe sie sehr viel. Bis auf den Ehering kein Schmuck.
»Nun, wie kann ich Ihnen helfen, Mrs …?« Frost stellte zwei Teetassen auf den Schreibtisch und bedeutete der Frau, die immer noch unsicher herumstand, sich zu setzen. Auch wenn sie eigentlich den Diebstahl des Folianten vorbereiten musste, wollte sie diese potenzielle Klientin nicht ablehnen. Auftrag war Auftrag.
»Payne, Cecilia Payne.« Die Frau hielt die Tasse wärmend in beiden Händen. »Ich bin Wissenschaftlerin und arbeite im Observatorium in Greenwich.«
Frost pfiff durch die Zähne. »Sie sind eine der Sterngucker? Durften Sie schon einen Kometen nach sich benennen?« Sie war in der Tat schwer beeindruckt.
Cecilia Payne lächelte verlegen. »Nein, das nicht. Meine männlichen Kollegen fänden das bestimmt unangebracht, auch wenn ich das für kompletten Unsinn halte. Aber als einzige Frau am Institut ist es oft nicht einfach.« Sie nahm einen Schluck Tee und klammerte sich weiterhin an die Tasse. »Ich vermisse meinen Mann, Miss Frost. Seit mehr als zwei Wochen war er anscheinend nicht mehr zuhause. Ich mache mir Sorgen um ihn, und mir wurde gesagt, dass Sie mir helfen können.«
Frost hob die Augenbrauen. »Anscheinend?«
»Nun, sehen Sie, Miss Frost, meine Arbeit verlangt oft, dass ich die Nacht über im Observatorium bleibe. Es vergehen manchmal Tage, bis ich mein eigenes Bett wiedersehe. Unser Hausmädchen hat auf mein Nachfragen gesagt, dass sie Mr. Payne schon länger nicht mehr gesehen hätte.«
»Waren Sie schon bei Scotland Yard?«
Mrs. Payne verneinte. »Ich möchte, wenn möglich, die Polizei vermeiden.«
Frost wusste, dass sie nun die unangenehmen Fragen stellen musste, doch sie brauchte jede Information, die ihr Mrs. Payne geben konnte. »Ist es das erste Mal, dass Ihr Mann verschwunden ist?« Sie holte ihr Notizbuch aus der Schublade.
»Ohne Nachricht? Ja.«
»Haben Sie sich schon bei seinem Arbeitsort nach ihm erkundigt?«
Mrs. Payne schüttelte den Kopf. »Jackson hat zurzeit keine Arbeit.«
Frost machte sich ein paar Notizen und schaute dann auf. »Hat Ihr Mann vielleicht eine Affäre? Kann es sein, dass er bei einer anderen Frau ist?«
Mrs. Payne schüttelte erneut den Kopf, sah dann aber unsicher auf ihre Hände. »Ich glaube nicht. Jedenfalls hoffe ich es nicht.«
»Hat Ihr Mann Freunde in der Stadt? Einen Club, den er regelmäßig besucht?«
Sie seufzte leise. »Jackson ist erst vor ein paar Monaten nach London gekommen. Ich habe ihn in New York kennengelernt, als ich an der dortigen Universität studiert habe. Er ist ein Pinkerton, müssen Sie wissen. Und nicht gerade jemand, der schnell Freundschaften schließt.« Ein liebevolles Lächeln schlich sich in ihr Gesicht.
Pinkerton? Die Sache wurde interessant. »Sie kamen aber vor ihm nach London.«
Mrs. Payne nickte. »Ich bekam vor zwei Jahren die Stelle im Observatorium. London ist meine Heimatstadt, ich wurde hier geboren, deswegen konnte ich das Angebot unmöglich ablehnen. New York hat seine Vorzüge, doch wenn Sie von der führenden Forschungsstätte des Empires ein Angebot erhalten, dann sagen Sie nicht Nein. Vor allem nicht als Frau. Die Forschungsarbeit, die wir in Greenwich betreiben, ist von bedeutender Wichtigkeit.«
Frost musste lächeln, als sie das Strahlen in Mrs. Paynes Augen bemerkte. Diese Frau lebte für ihre Arbeit. Aber das bedeutete auch, dass sie wohl nicht viel Zeit für ihren Mann hatte, der neu in der Stadt war und den sie vermutlich zwei Jahre lang nicht gesehen hatte.
»Mrs. Payne, ich bin ehrlich«, fing Frost an und verschränkte die Hände. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich Ihren Mann finde. London ist sehr groß, wie Sie wissen. Aber ich werde mein Mögliches tun.« Als Mrs. Payne nickte und sich damit einverstanden erklärte, zog Frost zwei Blätter Papier aus der Schublade des Schreibtischs. Das eine war ein Vertrag, den sie Mrs. Payne zum Durchlesen und Unterzeichnen reichte. Das andere war ein standardisiertes Formular, das sie von Scotland Yard abgekupfert hatte.
»Wenn Sie mit meinen Konditionen einverstanden sind, bitte ich Sie, den Vertrag zu unterschreiben. Danach möchte ich Sie bitten, hier ein paar Sachen auszufüllen. Vollständiger Name Ihres Mannes, Alter, Größe, Haarfarbe, Lieblingspub, sie wissen schon. Je mehr ich über Ihren Mann weiß, desto eher werde ich ihn finden können.«
Sie reichte Mrs. Payne einen Füller und lehnte sich zurück in den Sessel. Sie schlürfte ihren mittlerweile abgekühlten Tee, während sie Mrs. Payne dabei zusah, wie diese das Formular ausfüllte.
Zwei Aufträge an einem Tag. Das neue Jahr versprach wahrlich interessant zu werden.
4.
Frost betrachtete die Kleider, die ausgelegt auf ihrem Bett lagen. Was zog man an, wenn man gleich in das Haus eines reichen Mannes einbrach? Sie nahm eine chinesisch geschnittene Bluse in die Hände und runzelte die Stirn. Auf dem Rücken prangte das gestickte Zeichen der Organisation. Nein, das konnte sie nicht anziehen. Diese Kleider hatte sie immer dann getragen, wenn sie einen Auftrag für die Organisation oder für Madame Yueh ausgeführt hatte – was im Endeffekt das Gleiche war. Sie wusste noch sehr gut, wie es sich angefühlt hatte, diese Kleider zu tragen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte es sie mit Stolz erfüllt, diese Zeichen auf ihrem Rücken zu haben. Die Menschen auf der Straße waren ihr ehrfürchtig aus dem Weg gegangen. In gewissen Vierteln Londons stellte sich niemand freiwillig in den Weg der Organisation. Außerdem sah sie mit diesen Kleidern wie eine Ninja aus. Viel zu auffällig.
Am Ende entschied sie sich für schlichte dunkle Stücke. Ein paar Wollhosen, ein schnörkelloses Korsett, eine Bluse und den langen Wollmantel. Damit würde sie in einer Menschenmenge kaum auffallen, und die Sachen waren nicht allzu sperrig, so dass sie im Notfall klettern und rennen konnte.
Frost war gerade dabei, die Stiefel zu schnüren, als ihre Sicht verschwamm. Sie schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen, doch die unklare Sicht blieb. Lichtpunkte tanzten nun zusätzlich vor ihren Augen. Ihre Ohren begannen zu klingeln, und sie bekam kaum noch Luft. Es fühlte sich an, als wäre ihr Brustkorb in einen Schraubstock gepresst.
Oh nein, oh nein, dachte sie noch, dann verlor sie das Gleichgewicht und sackte neben dem Bett zusammen. Durch das Klingeln und das Rauschen in ihren Ohren fühlte sie sich wie in Watte gepackt. Ihre Lungen schrien nach Luft. Mit klammen Händen tastete Frost nach der Kette, die sie immer um den Hals trug. Ächzend stemmte sie sich hoch und stützte sich an der Wand ab.
Spiegel, sie brauchte den Spiegel.
Ihre Lungen rebellierten, ihr Brustkorb drohte zu zerspringen. Ihr Hirn reagierte mit blanker Panik. Mit letzter Kraft klammerte sie sich ans Waschbecken und zog an der Kette. Ein Schlüssel aus reinem Silber hing an ihr. Sie bugsierte die Kette über den Kopf. Mit quälend langsamen Bewegungen zog sie Korsett, Bluse und das Unterhemd aus, wobei sie keuchend nach Luft schnappte. Ihre Lungen verweigerten den Dienst. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Spiegel und schaute über die Schulter. Zwischen den Schulterblättern befand sich eine Metallplatte, gerade so groß wie ein Handteller, dicht verwachsen mit Frosts Haut. In der Mitte dieser Platte ein Schlüsselloch. Wenn sie sich fest genug streckte, konnte sie das Schlüsselloch gerade so erreichen. Es genügte, um den Schlüssel einzuführen und ihr Herz wieder aufzuziehen.
Als sich ihr Puls normalisierte und sich der Schraubstock von ihrem Brustkorb löste, ließ Frost sich verschwitzt und erschöpft vor dem Waschbecken zu Boden sinken.