Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luzia Pfyl
Издательство: Bookwire
Серия: Frost & Payne - Die gesamte Staffel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958344112
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eine lose gewordene Strähne ihrer braunen Haare hinter das Ohr. Ihr Blick fiel auf ihre Stiefel, und so unauffällig wie möglich versuchte sie, den daran haftenden Dreck abzuschütteln. Das musste reichen.

      Frost nahm das Geschenk aus ihrer Umhängetasche und hielt es wie einen Schutzschild vor ihren Körper.

       Es hatte sie einiges an Überwindung gekostet, heute Abend hierherzukommen. Vor drei Monaten hatte sie sich dazu entschieden, ihrer Ziehfamilie den Rücken zu kehren, um auf eigenen Füßen zu stehen. Sie hatte es sattgehabt, ein Werkzeug für das Imperium der Organisation zu sein. Die Möglichkeit, sich ein Leben außerhalb der Familie aufzubauen, würde so schnell nicht wiederkommen. Sie hatte dafür kämpfen müssen, dass sie sie gehen ließen, obwohl sie von Anfang an nie richtig dazugehört hatte, weil sie anders war. Sie war keine Chinesin. Madame Yueh hatte sie als Kind von der Straße aufgelesen, und ihr stellte sich niemand in den Weg. Aber die Fähigkeit, jede Tür öffnen zu können, hatte sie zum perfekten Hilfsmittel gemacht.

      Frost atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Trotz allem fühlte sie sich ihrer Familie immer noch verpflichtet. Wenigstens soweit, dass sie sie zum chinesischen Neujahr besuchte. Es wäre unhöflich gewesen, hätte sie es nicht getan, und sie wollte das sonst schon schwierige Verhältnis nicht noch stärker belasten.

      »Ich möchte bitte Madame Yueh sprechen«, sagte sie zu dem Chinesen, der soeben hinter einem Perlenvorhang hervortrat. Er trug traditionelle Kleidung und war der Hausvorsteher.

      »Ah, Miss Lydia«, begrüßte der Mann sie mit einem freundlichen Nicken. »Ein glückseliges neues Jahr wünsche ich Ihnen.«

      Frost machte eine leichte Verbeugung. »Das wünsche ich Ihnen ebenfalls, Mr. Lee.« Sie wartete, bis auch er sich der Höflichkeit entsprechend verbeugt hatte, dann erkundigte sie sich erneut nach ihrer Ziehmutter. »Ich würde ihr gerne ein Neujahrsgeschenk überreichen.«

      »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Lydia. Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass Madame Yueh ausgegangen ist.«

      Das war nicht gut. Sie hätte ihr das Geschenk gerne persönlich gegeben und die Sache so schnell wie möglich hinter sich gebracht. Sie hatte bereits die Einladung abgelehnt, mit ihr und der Familie das Neujahrsfest zu verbringen, und sie damit beleidigt. Aber sie wollte Michael nicht länger warten lassen.

      »Mr. Lee, bitte richten Sie ihr aus, dass ich hier war und ihr mit diesem kleinen Geschenk alle nur erdenklichen Wünsche für das neue Jahr überbringe.« Frost kämpfte mit den Höflichkeitsfloskeln. Sie hatte nie viel dafür übrig gehabt, auch wenn Madame Yueh sich alle Mühe gegeben hatte, sie die chinesischen Traditionen zu lehren.

      So schnell es der Anstand erlaubte, verabschiedete Frost sich von Mr. Lee und eilte zurück hinaus auf die Straße. Die Kakophonie aus Flöten, Zimbeln und Feuerwerk hatte sie sogleich wieder umfangen. Vorne auf der Garnet Street zog ein feuerroter Drache vorbei. Frost holte ihre Taschenuhr aus dem Mantel und murmelte einen Fluch. Die vollgestopften Straßen hatten sie eine Menge Zeit gekostet. Michael wartete bestimmt schon.

      Statt sich erneut durch die Menschen zu drängen, ging Frost in die entgegengesetzte Richtung und bog in die Parallelstraße ein. Auch hier waren viele Menschen unterwegs, vor allem zu den Opiumhöhlen, die weiter unten an den Docks lagen. Ganz London schien sich an diesem Abend in Chinatown aufzuhalten, um das chinesische Neujahr zu feiern. Den meisten war es jedoch egal, was sie feierten, wie Frost wusste, so lange sie eine weitere Gelegenheit hatten, sich zu betrinken und den harten Alltag wenigstens für einen Moment zu vergessen.

      Es war Mitte Februar 1885, und London war das Zentrum eines weltweiten Imperiums. Nach dem Bau der ersten Dampfmaschine und – vor allem – nach der Entdeckung des Aethers vor ungefähr fünfzig Jahren hatten sich die Technologien sprunghaft entwickelt. Fabriken waren überall aus dem Boden geschossen. Bald gab es in jedem Lebensbereich Maschinen, die Straßen Londons wurden von Aether beleuchtet, und über dem Smog, der die Stadt mittlerweile das ganze Jahr einhüllte, schwebten Luftschiffe jeder nur erdenklichen Größe.

      London war das von Kohle geschwärzte mechanische Herz des Empires. Die größte Stadt der Welt.

      Frost war ganz in Gedanken versunken und bemerkte nicht, wie sich ihr jemand in den Weg stellte. Erst, als eine kräftige Hand sich um ihren Oberarm schloss und sie mitten im Schritt gestoppt wurde, schaute sie auf und ging instinktiv in Abwehrhaltung. Unter ihrem Korsett trug sie wie immer ein verborgenes Messer.

      »Jetzt wärst du beinahe an mir vorbeigelaufen.«

      »Michael!« Frost lachte erleichtert auf. »Ich dachte, wir treffen uns beim Blauen Affen?«

      »Da habe ich auch über eine halbe Stunde auf dich gewartet.« Michael Cho verzog das Gesicht in gespielter Enttäuschung, worauf Frost ihm sanft auf den Oberarm boxte. Für einen Moment strahlten seine schwarzen schmalen Augen grün und golden auf, als über ihnen Feuerwerk explodierte.

      »Es hat einfach zu viele Menschen hier. Oben an der Garnet Street ist kein Durchkommen mehr.« Frost stieß den Atem aus und schaute zu ihm auf. »Ich war bei Madame Yueh.«

      »Sie wird sich gefreut haben, dich zu sehen. Wir vermissen dich alle.« Michael bot ihr den Arm an, und gemeinsam schlenderten sie den Weg zurück, den Frost gekommen war. Gefrorener Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, die ersten Flocken eines erneuten Schauers fielen aus dem schwarzen Himmel.

      »Sie war nicht da.« Frost merkte, wie sich eine Spur Enttäuschung in ihre Stimme schlich. Ja, die Entscheidung, Madame Yueh und damit die Organisation zu verlassen, war allein ihre gewesen. Dennoch fühlte es sich an, als hätte sie ihre Familie im Stich gelassen. Die vergangenen drei Monate hatte sie sich gefühlt, als säße sie auf zwei Stühlen, die sich immer weiter voneinander entfernten. Auf dem einen Stuhl ihre Familie, auf dem anderen ihre Freiheit.

      Michael legte den Arm um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Madame Yueh ist nicht nachtragend. Sie wird dir verzeihen, und dann kommst du zurück.« Die Geste war so vertraulich, dass Frost kurz zusammenzuckte. Das war neu.

      »Ich werde aber nicht zurückkommen«, sagte sie mit Nachdruck und löste sich von ihm. »Die Agentur läuft gut.« Die Agentur lief überhaupt nicht. Aber das brauchte Michael nicht zu wissen. »Ich kann mich vor Aufträgen kaum retten. Du glaubst gar nicht, was die Leute alles verlieren.« Sie hatte gehofft, ihr Talent im Beschaffen von Dingen in den Dienst der Londoner zu stellen. Das Yard war vollkommen überfordert. Also warum nicht eine Art Detektei gründen, hatte sie sich gedacht. Jeden Tag verschwanden Menschen spurlos, wurden Gegenstände gestohlen. Frost hatte geglaubt, dass die Leute, die nicht zu Scotland Yard gehen wollten, ihr die Tür einrennen würden. Bisher saß sie jedoch mehr oder weniger untätig in ihrem Büro herum.

      Michael lachte versöhnlich. »Wie du meinst. Darf ich dich wenigstens besuchen kommen?«

      »Natürlich. Ich würde mich freuen.«

      Sie hatten die Garnet Street erreicht und tauchten ins Getümmel ein. Jemand zündete Böller. Die Zuschauer wichen respektvoll zurück. Frost hielt Michaels Hand, damit sie ihn in der Menge nicht verlor, und ließ sich von ihm führen.

      »Jetzt mach nicht so ein angesäuertes Gesicht, Lydia«, rief Michael über den Lärm hinweg. »Es ist Neujahr! Komm, wir gehen zu den anderen. Die haben bereits ohne uns angefangen zu feiern.«

      Frost lächelte und konnte sich sogar mit dem Gedanken anfreunden, ein oder zwei Pints mit den Jungs zu trinken. So wie früher.

      Sie hatte den übelsten Kater seit Langem.

      Frost stöhnte und hielt sich den Kopf, als sie sich zurück auf das Bett hievte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und ihre Glieder fühlten sich an wie tonnenschwerer Stahl, der sich langsam in Kautschuk verwandelte.

      »Ich hasse dich, Michael«, ächzte sie, als sie sich dazu zwang, aufzustehen. Sie schlurfte ins Bad und stolperte auf dem Weg dahin über ihre Kleidung. Stiefel, Lederhose, Korsett, Bluse, Mantel. Wenigstens hatte sie es noch fertiggebracht, sich halbwegs anständig auszuziehen und nicht gleich in voller Montur ins Bett zu fallen, wie es ebenfalls