Payne hielt ihr die Tür auf. Frost nahm ihren roten Schirm zur Hand und schlüpfte hinaus in den immer noch strömenden Regen. Sie hatte kaum zwei Schritte gemacht, als sie in eine tiefe Pfütze trat.
»Verdammte Scheiße!«
Inspektor Alden Jones' Mund war zu einem schmalen Strich zusammengekniffen, als er hinter Commissioner Lovett den Leichenraum betrat. Es war weniger wegen des Raumes und dessen allzu oft grausigen Inhalts als wegen des Doktors, dessen Reich er gerade betreten hatte. Dr. Taylor sah käsig aus wie immer und zupfte an seinem Schnurrbart. Jones hegte eine tiefe Abneigung gegen den Mann.
»Gentlemen«, begrüßte Dr. Taylor ihn und den Commissioner mit einem kurzen Nicken. »Sie sagten, ich solle Sie rufen lassen, Commissioner, falls wieder eine reinkommt.« Sein kalter Blick huschte zu Jones. »Ich dachte, Inspektor Dane hat den Fall?«
Jones ballte die Fäuste, zwang seine Finger jedoch rasch wieder auseinander. Er war zu alt für diese kindischen Feindseligkeiten, die Taylor ihm jedes Mal, wenn sie sich begegneten, entgegenwarf.
Der Commissioner räusperte sich. »Inspektor Dane ist vor ein paar Tagen Vater geworden und hat weiß Gott anderes im Kopf, als hier im Yard zu sein. Ich habe Inspektor Jones mit dem Fall beauftragt und bin mir sicher, dass er ihn schnell lösen wird.«
Jones nickte anerkennend, spürte jedoch alsbald den Druck auf seinen müden Schultern lasten. Es waren nur wenige Tage vergangen zwischen den ersten beiden Leichen und dieser hier, die auf dem Tisch zwischen ihnen lag. Er musste den Mörder erwischen, bevor er ein viertes Mal tötete.
»Nun denn, meine Herren, fangen wir an.« Dr. Taylor trat an den Stahltisch und befreite den Leichnam vom Leinentuch, das ihn bedeckte.
Jones schluckte hart und trat näher. Ein Junge, irgendwo zwischen Kind und Mann, 13, vielleicht 14 Jahre alt. Es war nicht die erste Leiche, die er sah, doch wenn sie so jung waren …
»Keine äußerlichen Anzeichen von Verletzungen. Male an Hand- und Fußgelenken, vermutlich war er gefesselt. Zeitpunkt des Todes lässt sich nicht mehr feststellen, da er einige Zeit im kalten Wasser war.« Dr. Taylor konsultierte sein Klemmbrett. »Blutuntersuchung ergab, dass er …«
»Moment«, unterbrach Jones ihn, was ihm einen kalten Blick von Taylor einbrachte, und trat näher an den Tisch. »Das nennen Sie keine äußerliche Verletzung? Der Junge hat eine Hand aus Metall.«
»Sehr gut, Inspektor. Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Fahren Sie fort, Dr. Taylor«, unterbrach Lovett scharf, bevor Jones etwas erwidern konnte.
Taylor schürzte die Lippen, wandte sich dann jedoch wieder seinem Klemmbrett zu. »Meine Blutuntersuchung ergab, dass er vermutlich an einer Sepsis gestorben ist. Außergewöhnlich hohe Anzahl an weißen Blutkörperchen.«
»Ebenfalls offensichtlich«, murmelte Jones. Die Wunde am Handgelenk des armen Teufels war feuerrot und entzündet. Trotz des Wassers war der klebrige Eiter immer noch deutlich vorhanden. Dunkle Striemen zogen sich den ganzen Arm hinauf bis in den Brustkorb.
»War es also Mord?«, wollte Commissioner Lovett wissen.
»Wenn man nur meine Befunde anschaut, dann nein«, sagte Dr. Taylor und schaute den Commissioner kühl an. »Das Opfer weist keine Stich- oder Schussverletzungen auf. Es befand sich kein Wasser in der Lunge. Er ist an einer schweren Sepsis gestorben, und der Tod ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eingetreten, bevor man ihn in die Themse geworfen hat. Allerdings«, Dr. Taylor machte eine Pause und hob die Hand, bevor Jones die Gelegenheit bekam zu protestieren, »allerdings möchte ich in diesem Fall meine persönliche Meinung anfügen.«
Lovett nickte. »Ich bitte darum, Doktor.«
»Eine Körpermodifikation dieses Ausmaßes ist unethisch. Kein lizenzierter Arzt wird eine solche Operation vornehmen. Die Idee dahinter ist nicht neu – denken Sie nur an die Kriegsveteranen –, doch die Technik ist sehr unausgereift.« Er schaute von Lovett zu Jones. »Dieser Junge war gesund, als man ihm die Hand entfernt hat. In meinen Augen eine völlig unnötige und amoralische Operation.«
»Sie wollen damit also sagen, dass jemand vorsätzlich in Kauf genommen hat, dass dieser Junge leiden und am Ende sterben wird?«, präzisierte der Commissioner.
»Exakt.«
Lovett drehte sich zu Jones um. »Ich habe genug gehört. Folgen Sie mir, Inspektor.«
Jones eilte dem Commissioner hinterher, froh, aus dem grässlichen Raum entkommen zu können. In seinen langen Jahren als Mitglied der Polizeikräfte hatte er sich nie damit anfreunden können, dass Tote und Mordopfer in Leichenzimmern aufbewahrt wurden, um sie zu untersuchen. Taylor nannte die neueste Methode, die er anwendete, Forensik. In Jones' Augen reiner Humbug.
»Sir, darf ich fragen, warum Sie zu den Archiven gehen und nicht zurück in den Gemeinschaftsraum?«
»Dane hat die alten Akten noch nicht bekommen. Ich hatte meine Zweifel, ob er tatsächlich wieder zurück ist, doch nun haben wir den Beweis.« Lovett öffnete die Tür zum riesigen Archiv von Scotland Yard. Der Frischling, der hinter dem Empfangstresen saß, erschrak sich so sehr, dass er beinahe vom Stuhl gefallen wäre.
»Er?«
Lovett nickte und scheuchte den Kadetten unter einem Vorwand davon. Stille stülpte sich über den düsteren Raum. Im Licht, das durch die trüben Fensterscheiben fiel, tanzten Staubflocken.
»Vor zwanzig Jahren hat er schon einmal gemordet. Das müssten Sie wissen, Jones, Sie lasen damals doch schon Zeitung, nicht?«
Jones verzog den Mund. »Vor zwanzig Jahren war ich frisch in die Polizei von Edinburgh eingetreten. Edinburgh und London waren damals eine halbe Welt voneinander entfernt. Außerdem hatten wir unsere eigenen Probleme da oben.«
Lovett strich seine Weste etwas zu fest glatt. »Wie dem auch sei. Sie sind heute der beste meiner Männer, Jones. Deswegen habe ich Sie auch mit dem Fall betraut, nicht diesen Faulpelz Dane. Wir haben schon drei Leichen. Vier weitere werden folgen, wenn Sie den Killer nicht schnell finden.«
Jones schaute zu, wie Lovett die Schubladen eines Kabinetts durchsuchte und dann eine dicke Akte daraus hervorzog. »Warum sieben?«
»Damals haben die Morde nach dem siebten Kind aufgehört, und wir haben jede Spur verloren. Ich möchte nicht, dass sich das wiederholt.« Lovett drückte ihm die Mappe in die Hände. Jones las die Worte, die darauf geschrieben waren.
»Die mechanischen Kinder?«
»War Inspektor Welshs Idee. Ich war damals noch Sergeant und stand meistens in der Empfangshalle hinter dem Tresen.« Lovett räusperte sich und schaute Jones eindringlich an. »Welsh hat jedes Fitzelchen an Information, welches wir damals hatten, gesammelt. Arbeiten Sie sich in den Fall ein, und tun Sie es schnell. Er könnte bereits das nächste Opfer in seiner Gewalt haben.«
»Ich werde Hilfe brauchen. Constable Manju war mir beim letzten Fall eine große Unterstützung.«
Lovett nickte. »Nehmen Sie sie hinzu, aber schärfen Sie ihr ein, dass die Sache äußerst heikel ist. Kein Wort zur Presse oder irgendjemandem, der nichts mit dem Fall zu tun hat. Haben Sie mich verstanden, Inspektor?«
Jones nickte, worauf Lovett ihn stehen ließ. Er sah noch einmal auf die handschriftlichen Worte auf der Mappe. Die mechanischen Kinder. Wie passend.
»Nilima Manju, hören Sie auf, mit Sergeant Beckett zu flirten und kommen Sie her«, rief er laut, als er in den Gemeinschaftsraum stapfte. Eine junge Frau indischer Abstammung schrak zusammen, raffte jedoch sofort ihre Röcke und eilte an Jones' Schreibtisch. Ihre vielen goldenen Armreifen klimperten bei jeder Bewegung.
»Ich dachte, Sie seien verheiratet«, brummte Jones und musterte kurz ihr Gesicht. Nicht eine Spur von Scham.
»Und ich dachte, Sie seien keine Klatschtante«, gab Manju zurück und verschränkte die Arme vor der