»Jackson!«
Als Payne die marineblauen Uniformen der Polizei erkannte, hob er die Hand und gebot Cecilia, zurückzubleiben. »Warte hier.«
»Werde ich ganz bestimmt nicht«, gab Cecilia zurück und ging an Payne vorbei an die Mauerbrüstung. »Entschuldigen Sie bitte, Gentlemen«, rief sie laut, »ist hier etwas passiert?«
»Bleiben Sie zurück, Ma’am«, sagte einer der Polizisten. »Dies ist ein Tatort.«
Cecilia schaute zu Payne, dann drehte sie auf dem Absatz um und nahm die eiserne Treppe hinunter ans Ufer.
»Cecilia, bleib hier! Ach, verdammt.« Payne fluchte und ging seiner Frau hinterher. Manchmal wusste er nicht, wo die neugierige Forscherin aufhörte und die Frau, die er geheiratet hatte, anfing.
Einer der Beamten kam ihnen sogleich entgegen und breitete die Arme aus. »Ma’am, ich muss Sie bitten, zurückzubleiben. Sie auch, Sir.«
Payne stellte sich hinter Cecilia, als ein zweites Bündel aus dem Wasser gezogen wurde. Zwei Polizisten mühten sich ab und zogen es hinauf zu dem anderen Bündel, das bereits auf dem Kiesbett lag. Im Licht der Laternen konnte man die schmutzigen Schnüre sehen, die mit Schlamm vollgesogenen Stoffe und die Algen, die sich darin verfangen hatten. Das zweite Bündel fiel auseinander, als die Männer es den letzten Meter über den Kies hievten.
»Oh, mein Gott«, rief Cecilia aus und schlug geschockt die Hände vor den Mund. Einer der Polizisten würgte. Payne nahm Cecilia am Arm und führte sie ein paar Schritte weg. Er selbst jedoch konnte den Blick nicht von dem Bündel nehmen. Alles, was er sah, war dunkles, langes Haar und der schmale Arm eines Jugendlichen.
Er musste sich vergewissern. Kurzerhand ließ er Cecilia stehen und ging langsam zu den Männern, die um die Bündel herumstanden. Auf ihren weißen Gesichtern zeigte sich Schock, Entsetzen und Mitleid.
»Machen Sie das zweite auf«, sagte jemand, ein anderer zückte ein Messer. Bestialischer Gestank fuhr ihnen entgegen, als die Stoffe sich lösten und ein zweites Gesicht zum Vorschein kam.
Payne schaute genauer hin. Es waren tatsächlich Jugendliche. Er schätzte sie etwa auf zwölf oder dreizehn Jahre. Die Erleichterung, dass es sich bei dem Mädchen nicht um Annabella handelte, verursachte ihm weiche Knie. Annabella war erst sechs.
»Chief, hier stimmt etwas nicht«, sagte einer der Männer, der neben dem Jungen kniete. Sofort wandte sich jeder zu ihm um. Der Polizist deutete auf den Arm des Jungen.
»Was bei allen Teufeln?«, fluchte der angesprochene Sergeant fassungslos und bekreuzigte sich. Die Männer raunten einander zu, doch Payne verstand nicht, was sie sagten. Er starrte auf den Arm des Jungen. Er bestand gänzlich aus Metall.
Die Polizisten kamen in Bewegung und schauten sich nun auch das Mädchen genauer an. Sie wurden schnell fündig. Das linke Kniegelenk war ebenfalls mechanisch. Die messingfarbenen Metallplatten waren mit Rost überzogen. Dort, wo die Haut auf das Metall traf, konnte man grässliche Verwachsungen und Entzündungen sehen. Dunkelrote Adern bildeten ein groteskes Netz auf der bläulichen Haut.
Payne hatte genug gesehen und erhob sich. Cecilia stand etwas abseits stocksteif da und war kreidebleich im Gesicht. »Es ist nicht Annabella«, sagte er zu ihr, worauf sie nickte und nach seiner Hand griff. Ihre Finger krallten sich in seine Haut.
»Officer, holen Sie Dr. Hastings«, hörten sie den Sergeant befehlen. »Und danach benachrichtigen Sie Commissioner Lovett. Er ist wieder da.«
Ende des 1. Teils
II
Die mechanischen Kinder
1.
Sein Atem ging rasselnd, als er durch den langen Flur eilte. Immer wieder schaute er über die Schulter zurück, doch niemand schien ihm zu folgen. Die stahlbeschlagene Box, die er an sich klammerte, wog schwer in seinen Armen. Der Inhalt war unbezahlbar und obendrein der Schlüssel zu ihrem weiteren Vorhaben.
Er fegte die schier endlose Wendeltreppe hinauf. Oben in der Fabrikhalle hielt er inne, um zu Atem zu kommen. Ein Gefühl des Triumphes stieg in ihm empor. Er hatte es geschafft. Sie hatten ihm viel Geld geboten, um es zu stehlen, aber für die Sache hätte er es auch umsonst gemacht. Die Sache stand immer an erster Stelle.
Er hastete weiter durch die Halle. Es war dunkel und still. Die riesigen Maschinen ragten wie Ungetüme zu beiden Seiten auf. Er roch den alten Schweiß der Arbeiter, die tagsüber hier Schwerstarbeit verrichteten. Rußpartikel kitzelten seine Kehle.
Am anderen Ende der Halle machte er einen Lichtschimmer aus. Eine einzelne Aetherlaterne stand neben einer Walze auf dem Boden. Drei Männer verharrten im Lichtkreis. Er beschleunigte seine Schritte. Sie warteten bereits auf ihn.
»Hast du es?«, fragte der Anführer sogleich, als er nähertrat. Er nickte und hielt ihm den Koffer hin. »Gute Arbeit, Walker.«
Walker schaute zu, wie der Anführer die Box an den zweiten Mann weitergab und in seinen Mantel griff. Als er das Klicken eines Revolvers hörte, machte Walker einen Schritt zurück.
»Was soll das? Sie wollen doch nicht etwa … Falls Sie denken, ich bin nicht mehr für die Sache …«
»Sei still, Walker. Dein ewiges Geschwätz von der Sache geht mir auf den Geist. Ihr Anarchisten widert mich an. Keinen Sinn für Ordnung und Disziplin.« Der Anführer trat einen Schritt näher. Walker konnte die Kälte in seinen Augen sehen. »Für meine Sache brauche ich dich nicht mehr.«
Walker geriet in Panik. »Moment, warten Sie! Ich …«
Der Schuss knallte laut in der Stille der Fabrikhalle. Walkers lebloser Körper sackte zu Boden.
»Lasst ihn hier irgendwo liegen, aber nicht zu offensichtlich. Ich will nicht schon morgen früh das Yard hier haben.«
Der Mann steckte den Revolver zurück in seinen Mantel. Er nahm die Box wieder an sich und ging hinaus in die Londoner Nacht.
2.
Frost stieg aus der Kutsche und trat als Erstes in eine riesige Pfütze. Sie unterdrückte im letzten Moment einen Fluch und schüttelte ihren nassen Stiefel aus. Ihre Begleitung, ein etwas steifer Privatsekretär namens Eric Sanderson, schaute sie mit einer hochgezogenen Braue an.
»Verzeihung«, murmelte sie.
»Hier entlang, bitte«, sagte der Mann und deutete auf einen Gebäudekomplex.
Mehrere Fertigungshallen aus Backstein ragten vor ihnen auf. Aus den hohen Kaminen waberte schwarzer Rauch. Frost spannte ihren roten Regenschirm auf und folgte dem Privatsekretär über den Vorplatz.
»Mr. Sanderson«, rief sie und musste ihre Schritte beschleunigen, um ihren Begleiter einzuholen. »Um was für eine Fabrik, sagten Sie, handelt es sich hier?«
»Ich habe keine spezifische Fabrik erwähnt«, antwortete Sanderson, ohne seinen Gang zu drosseln, und steuerte auf die zweite Halle zur Linken zu.
»Warum bin ich hier?« Beinahe wäre Frost erneut in eine Lache getreten. Mit einem ungelenken Ausweichschritt konnte sie das Desaster gerade noch verhindern. »Sie sagten, es sei dringend.«
»Ich bin sicher, dass Dr. Baxter Ihre Fragen beantworten kann, Miss Frost. Ich wurde nur damit beauftragt, Sie hierherzubringen.« Sanderson öffnete eine Tür und bedeutete ihr, voranzugehen.
Frost schüttelte ihren Regenschirm aus und trat ins Halbdunkel des Gebäudes. Einen Moment lang konnte sie kaum etwas sehen, dann gewöhnten sich ihre Augen an das dämmrige Aetherlicht. Sie folgte Sanderson einen langen Gang mit hohen Wänden entlang. Links und rechts gingen Türen ab, doch sie waren alle verschlossen. Dumpfe Schläge und das ferne Kreischen von Metallsägen drangen an ihre Ohren.
Was dieser Dr.