9.
Frost raffte ihre Röcke und rannte an der eisernen Umzäunung des Museumsgeländes entlang. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Hinter sich hörte sie ihre Verfolger.
»Verzeihen Sie. Pardon. Aus dem Weg!«, murmelte Frost, als sie durch die Menschen hastete, die vor dem Museum über den Platz schlenderten. Auf der Straße bog sie nach links in die Montague Street ab. Beinahe wäre sie auf dem vereisten Gehweg ausgerutscht. Ihr Atem ging stoßweise, als sie den Russel Square erreichte.
Sie konnte nicht ewig rennen, wurde ihr klar. Hastig warf sie einen Blick über die Schulter. Der Abstand zwischen ihr und den vier Männern verkleinerte sich gefährlich. Frost hatte keine Waffe dabei. Ihr Revolver lag in einer Schublade in ihrem Büro. Das Messer, das sie wie immer in ihrem Korsett versteckt hatte, würde ihr nicht viel nützen. Sie fluchte. Als ein Schuss knallte, fluchte sie erneut.
»Das ist nicht mehr komisch«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, als sie durch den Park sprintete. Ohne auf den dichten Verkehr zu achten, rannte sie über die Kreuzung. Ihr Blick blieb an einem Schild hängen, das an einem weinroten Gebäude etwa hundert Meter vor ihr befestigt war. Die Russel Square Tube Station.
»Ach, verdammt.« Frost hasste die Tube, doch vielleicht gelang es ihr, im Untergrund ihre Verfolger abzuschütteln. Wenn sie Glück hatte, würde gerade ein Zug einfahren.
Nach einem weiteren Blick über die Schultern – ja, sie waren immer noch da – schlängelte sie sich durch die Passanten. Im letzten Moment änderte sie die Richtung und sprang durch den Eingang der Station. Ihre Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, doch sie hatte keine Zeit, sich richtig zu orientieren. Sie folgte ein paar Arbeitern, warf dem Ticketverkäufer einige Pennys hin – vermutlich viel zu viele, doch sie hatte keine Zeit, um Münzen zu zählen – und rannte die schmale Treppe hinunter in die Tiefe.
Nur wenige Aetherlampen erhellten den Treppengang. Ihr Licht spiegelte sich in den ehemals weißen Kacheln, mit denen die Wände getäfelt waren. Schier endlos wand sich die Treppe nach unten. Frost hielt kurz inne, um nach Luft zu schnappen, als sie über sich Radau hörte. Sie wollte nicht herausfinden, was der Grund dafür war, auch wenn sie es sich denken konnte. Wieder raffte sie die Röcke und nahm zwei Stufen auf einmal.
Frost schickte ein stummes Stoßgebet in den Himmel, als sie die untersten Stufen erreichte und den engen, düsteren Flur entlangrannte, der zur Plattform führte. Als sie das unmissverständliche Rattern und Dröhnen eines einfahrenden Zuges hörte, hätte sie beinahe vor Erleichterung aufgelacht.
Die Luft hier unten war stickig und voller Rauch und Asche. Frost stülpte ihren Schal über Mund und Nase. Der Zug stand an der Plattform, die halb offenen Wagen gut besetzt mit Arbeitern und Gesindel. Frost rannte die letzten Meter und sprang in einen der mittleren Wagons. Gleich darauf kam von der Lokomotive ein Pfeifsignal, und der Zug fuhr ab. Als sich die Dunkelheit des Tunnels um sie schloss, setzte Frost sich ermattet auf eine freie Holzbank. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihre Verfolger abschütteln können.
Die billigen Talglaternen, die im Wageninneren hingen, kamen kaum gegen den dichten Rauch, den die Lokomotive ausspuckte, und gegen die Dunkelheit der Tunnel tief unter der Erde an. Es war unglaublich laut. Die Räder der Wagen quietschen und ratterten, die engen Tunnelwände warfen jedes Geräusch hundertfach zurück. Frost wurde unsanft hin- und hergeschüttelt, und der Rauch der Lok biss in ihren Augen und Lungen.
Sie erreichten die nächste Station, Holborn, doch Frost beschloss, weiterhin in der Tube zu bleiben. Holborn war nicht weit genug weg und außerdem viel zu nah an ihrer Wohnung. Wenigstens hatte sie einen Zug in die Innenstadt erwischt. Sie hatte nicht wirklich Lust, irgendwo oben in Camden zu landen.
Als der Zug wieder losfuhr, glaubte Frost, im Wagen hinter ihr Schreie zu hören. Vermutlich hing ein Betrunkener halb aus dem Wagen, dachte sie, doch Momente, bevor ihr Wagen in den Tunnel eintauchte und der Lärm jegliche anderen Geräusche verschluckte, glaubte sie, chinesische Worte zu hören.
Unmöglich, redete sie sich ein, ihre Verfolger hatten den Zug nicht mehr erwischt. Außerdem beherbergte London die größte chinesische Gemeinde außerhalb des Mutterlandes. Die Chance, dass diese chinesischen Worte nicht von ihren Verfolgern stammten, war durchaus groß.
Frosts Nacken begann zu kribbeln. Sie musste sich einfach umdrehen und nachsehen.
Vor Schrecken und dem harten Rütteln des Wagens wäre sie beinahe von der Bank gerutscht. Im Wagen, der direkt an den ihren anschloss, arbeiteten sich ihre vier Verfolger unsanft durch die Passagiere. Einer von ihnen hielt eine der Talglaternen in der Hand. Frost konnte mindestens zwei Revolver im Schein der Lampen funkeln sehen.
»Shit«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor und stand auf. Um die Balance nicht zu verlieren, hielt sie sich an den Verstrebungen des Wagens fest und arbeitete sich so schnell sie konnte durch die anderen Passagiere. Ob sie in den nächsten Wagen klettern konnte? Nein, viel zu riskant. Lieber stellte sie sich den vier Männern, als dass sie sich in einem dunklen Tunnel von der Tube überrollen ließ.
Ihre vier Verfolger schien die Gefahr, zwischen die Wagen zu fallen, nicht sonderlich zu kümmern. Bang musste Frost mit ansehen, wie einer nach dem anderen über die Kupplung balancierte und dann in ihren Wagen kletterte.
Wann kam endlich die nächste Station? Oh, das würde eng werden. Sehr eng. Frost konnte das sichere Grinsen des vordersten Mannes sehr gut erkennen.
Licht flammte links von ihr auf. Frost wartete nicht, bis der Zug angehalten hatte, sondern sprang auf die Plattform und wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Jemand packte sie am Arm.
»Weglaufen bringt nichts, Vögelchen«, schnarrte der Mann auf Chinesisch.
»Lass mich los!« Frost wand sich. In einer Eingebung holte sie mit ihrer Tasche weit aus und knallte sie dem Mann an den Kopf. Der eiserne Griff um ihren Arm löste sich, und Frost begann wieder zu rennen.
Die anderen Passagiere schauten ihr hinterher, als sie durch den Tunnel zu den Treppen rannte. Als sie endlich die obersten Stufen erreichte und hinaus ins Tageslicht stolperte, riss sie sich nach Atem ringend den Schal vom Gesicht.
Um sie herum wimmelte es von Menschen. Covent Garden war, wie jeden frühen Abend, das Zentrum des Vergnügens. Personen jeglicher Herkunft strömten durch die Gassen zu den Theatern und Cabarets, in die Restaurants, Pubs und Bordelle.
Diese vielen Menschen und die einbrechende Dunkelheit kamen wie gerufen. Frost verlor keine weitere Zeit und tauchte in der Menge unter. Im Zickzack ging sie über den Platz zur Markthalle, machte Umwege durch die Stände und durch Läden, ging den halben Weg wieder zurück und bog dann in eine andere Gasse ab. Wachsam ließ sie ihren Blick über die Gesichter der Menschen huschen, doch von ihren vier Verfolgern war nichts mehr zu sehen. Hatte sie sie abgeschüttelt?
Frost blieb stehen und lehnte sich an eine Hausmauer. Sie war völlig erschöpft. Und ihr war schweinekalt. Ihr Blick fiel auf den Pub im Haus gegenüber. Rasch schaute sie nach links und nach rechts – die Luft war rein.
Doch sie kam nicht weit. Jemand packte sie unsanft am Arm und bugsierte sie weiter in die Gasse hinein, weg von der geschäftigen Straße, weg von den Menschen.
Sie hatte sie also doch nicht abgeschüttelt. Doch es war keiner der Chinesen, dem sie nun gegenüberstand.
»Wer sind Sie? Zum Teufel, lassen Sie mich los!«
»Ich glaube, Sie haben zwei Dinge, die ich brauche«, sagte der Mann, dessen Gesicht zum größten Teil von seinem Hut bedeckt war. Frosts Instinkte schalteten sich ein. Groß, athletisch, stahlharter Griff. Brandneue Kleidung, bis auf die Stiefel, die waren abgewetzt. Die ausgebeulte Tasche seines Mantels enthielt höchst wahrscheinlich eine Waffe. Amerikanischer Akzent.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, gab sie zurück und versuchte, ihren