»Was, oh?«
»Dies ist keineswegs ein tibetisches Manuskript, Miss Frost«, sagte Neville und richtete sich auf. »Dieses Buch stammt aus der Song-Dynastie, wenn ich mich nicht irre.«
Frost hob überrascht die Augenbrauen. Damit hätte sie nicht gerechnet. Auf dem Umschlag befanden sich eindeutig tibetische Kaligraphie und eine Zeichnung nach tibetischer Art. Die Song-Dynastie, 960 bis 1279, Blütezeit der chinesischen Klassik. Abgelöst von der Yuan-Dynastie mit Kubilay Khan. Frosts Gedanken begannen zu kreisen.
»Und ich habe mich schon gewundert, warum Madame Yueh ein tibetisches Buch besitzt«, murmelte sie und starrte auf die kunstvoll bedruckten Seiten. Die Yueh-Familie waren Han-Chinesen durch und durch. »Aber warum hat es einen tibetischen Einband?«
Neville zuckte zusammen und gab wieder ein Mäusequieken von sich. »Haben Sie gerade Madame Yueh gesagt? Die Madame Yueh? Die Seven Dragons?«, zischte er ängstlich und starrte Frost mit weit aufgerissenen Augen an. Frost nickte, worauf Neville wieder in hastige Eile verfiel. »Damit will ich nichts zu tun haben, Miss Frost! Warum haben Sie dieses Buch zu mir gebracht? Ich will wahrlich nichts damit zu tun haben!«
»Jonah, so beruhigen Sie sich doch«, versuchte es Frost, doch er schien ihr nicht zuzuhören. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie mir einen Gefallen schulden? Ich habe Ihren Arsch gerettet«, sagte sie eindringlich.
Einige andere Besucher und Gelehrte in der Bibliothek hoben die Köpfe und schauten missbilligend zu Frost und Neville. Dieser ließ nervös den Blick schweifen. »Das sagen Sie jedes Mal, wenn Sie etwas von mir verlangen, Miss Frost!«
Das stimmte. Frost verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Schmunzeln, während sie Neville musterte. Vor ein paar Jahren hatte sie dafür gesorgt, dass er von Scotland Yard als Zeuge gegen die Organisation fallen gelassen wurde. Neville war zur dümmsten Zeit am für ihn unglücklichsten Ort gewesen und hatte gesehen, wie eine Ladung Opium angeliefert wurde. Oder hatte zumindest geglaubt, dies gesehen zu haben. In jener Nacht war es sehr neblig gewesen. Zu seinem Glück hatte nur Frost sein Gesicht deutlich erkannt, als er weggerannt war. Und als Frost herausgefunden hatte, dass er ein harmloser Bücherwurm und Professor war, hatte sie einen Deal mit ihm vereinbart. Er zog seine Aussage bei der Polizei zurück, und sie half ihm dabei, die Organisation von ihm abzulenken. Hätte sie das nicht gemacht, wäre Neville nicht lange am Leben geblieben. Die Organisation verwischte gerne alle ihre Spuren.
»Tatsächlich? Das tut mir leid. Ja, das Buch gehört Madame Yueh. Sie hat mich gebeten, es von einem Experten untersuchen zu lassen, weil sie es restaurieren lassen will«, log sie kurzerhand. »Für die Versicherung, Sie verstehen.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Miss Frost?« Neville brachte ein nervöses Lachen zustande. »Ich würde es mir gerne noch einmal anschauen.«
Frost trat vom Tisch zurück und verschränkte zufrieden die Arme unter der Brust. Na bitte, geht doch. »Wenn der Foliant aus der Song-Dynastie stammt«, fragte sie, »warum hat er dann einen tibetischen Einband? Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«
»Eine interessante Frage, Miss Frost, sehr interessant.« Neville war wieder dabei, sich die einzelnen Buchseiten genau anzusehen und berührte dabei mit der Nasenspitze fast das alte Papier. »Ich bin Experte für Alt-Englisch und Angelsächsisch. Latein, Alt-Griechisch und Hebräisch. Ich kann diese chinesischen Zeichen leider nicht entziffern.«
Frost kniff die Lippen zusammen. Sie hatte versucht, im Buch zu lesen, aber entweder war die Schrift zu alt und die Zeichen hatten sich in den letzten sechshundert Jahren verändert – sie konnte einzelne Zeichen lesen, ja, aber sie standen in keinerlei Zusammenhang mit dem Rest –, oder der Text war in einer Art Code verfasst.
Nachdenklich ließ sie den Blick durch die Halle schweifen. Als sich ihr Blick mit dem eines asiatischen Mannes traf, begannen ihre Alarmglocken zu schrillen. Einen Tisch weiter saß noch einer. Zwei weitere Chinesen gingen langsam an den Regalen entlang und gaben vor, nach einem Buch zu suchen.
Ein ungutes Gefühl knotete sich in ihrem Magen zusammen. Waren die Männer ihr etwa gefolgt? Hatte Madame Yueh sie geschickt, um den Folianten an sich zu bringen? Vielleicht hatte Michael ihre Lüge doch durchschaut. Eines jedoch war sicher – sie musste von hier verschwinden.
»Was schätzen Sie, Jonah, ist es wertvoll?«, fragte sie und gab sich betont unbekümmert.
Neville blickte auf und fixierte Frost über den Rand seiner Brille. »Abgesehen davon, dass es sich um ein offensichtlich sehr seltenes Manuskript aus der Song-Dynastie handelt – mit einem tibetischen Einband, der allein schon eine Sensation darstellt? Ich würde sagen wertvoll, sehr wertvoll.«
»Gut, das ist schon alles, was ich wissen wollte. Die Versicherung wird sich freuen.« So unauffällig wie möglich schlug sie den Folianten in die Tücher ein und nahm ihn wieder an sich. »Wären Sie so lieb und würden mir den Hinterausgang zeigen, Jonah?«
Alarmiert flackerte Nevilles Blick auf. »Hinterausgang? Sind sie hier?«
Frost nahm seinen Arm und ging mit ihm gemäßigten Schrittes durch die Halle. Hinter sich hörte sie das Rücken zweier Stühle. »Bleiben Sie ganz ruhig.«
»Sie haben die Organisation direkt hierhergeführt«, zischte Neville ängstlich und schaute hastig über die Schulter zurück. Frost hätte ihm am liebsten in die Seite geboxt. Neville war ein Nervenbündel.
Sie erreichten das hintere Ende der Halle, und Neville öffnete eine Seitentür, die zu den privaten Studienräumen führte. »Geradeaus bis zum Ende des Ganges, dann die zweite Tür rechts.«
»Danke, Jonah«, sagte Frost und steckte das Buch in ihre Tasche. »Verstecken Sie sich in einem der Räume hier, und beeilen Sie sich. Sie sind hinter mir her, nicht hinter Ihnen.« Sie hoffte inständig, dass das der Wahrheit entsprach.
Neville nickte und verschwand in einem der Zimmer. Frost schaute über die Schulter. Zwei der vier Männer hatten das Ende der Halle beinahe erreicht. Als sie Frost im Durchgang sahen, beschleunigten sie ihre Schritte.
Frost verlor keine weitere Sekunde und drehte sich um. Mit schnellen Schritten eilte sie den breiten Flur hinab.
»Stehen bleiben!«, rief einer der Männer auf Chinesisch.
Frost bog um die Ecke, entdeckte die richtige Tür und zog daran. »Verdammt!« Abgeschlossen. Schnell ging sie in die Hocke und drückte die rechte Handfläche an das Schloss. Hinter ihr hörte sie die immer schneller werdenden Schritte. Das Schloss schnappte auf, und Frost riss die Tür auf. Eisige Luft umhüllte sie, als sie das Britische Museum verließ.
Dann begann sie zu rennen.
8.
Payne saß auf einer Bank im Greenpark und schaute ein paar Kindern zu, wie sie einen Schneemann zwischen den Bäumen bauten. Ihm war schweinekalt. Der stinkende Mantel, den er gefunden hatte, wärmte nicht im Geringsten. Payne hoffte inständig, dass Newman pünktlich kam und ihn nicht länger in der Kälte warten ließ.
Noch immer trug er die selben Kleider wie vor zwei Nächten, als man seine Bleibe in die Luft gejagt hatte. Auf dem Hemd prangten ein riesiger eingetrockneter Blutfleck und ein Loch. Zum Glück konnte man beides unter dem Mantel nicht sehen. Payne wusste, dass er auch so einen nicht gerade eindrucksvollen Anblick bot.
»Sie sehen erbärmlich aus«, sagte Newman, der sich in diesem Moment neben ihn auf die Bank setzte, wie zur Bestätigung.
»Sie haben sich Zeit gelassen«, erwiderte Payne und setzte sich gerade hin. Er musterte Greysons Sicherheitschef von der Seite. Wie immer trug dieser maßgeschneiderte Kleidung und einen sehr teuer, aber auch sehr warm aussehenden Mantel.
»Es ist Montag. Wie immer an einem Montag habe ich sehr viel zu tun und nicht gerade die beste Laune. Also, was soll die Geheimniskrämerei? Sie schrieben