Grenzwertdiskussion für NO2
Für Europa werden die Grenzwerte von der Europäischen Kommission festgelegt und anschließend vom Europaparlament verabschiedet. Die Staaten haben dann die Pflicht, diese Werte in das nationale Recht zu übernehmen. Zum Schutz der menschlichen Gesundheit werden Kurzzeit- und Langzeitgrenzwerte aufgestellt. In der EU-Richtlinie 2008/50/EG (im deutschen Recht mit der 39. BImSchV) wurde für Stickstoffdioxid in der Außenluft ein 1-Stunden-Grenzwert von 200 µg/m3 festgelegt, der nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden darf und seit Jahren in Deutschland eingehalten wird.
In der Verordnung ist auch ein Jahresmittelgrenzwert von 40 µg/m3 festgelegt. Bei Inkrafttreten des Grenzwerts im Jahr 2002 galt für diesen Jahresgrenzwert noch eine Toleranzmarge von 16µg/m3. Sie verminderte sich ab 1. Januar 2003 bis zum 1. Januar 2010 stufenweise um jährlich 2µg/m3. Seit 2010 ist die Toleranzmarge entfallen und der Jahresgrenzwert von 40 µg/m3 ist verbindlich einzuhalten. Für Stickstoffdioxid ist in der EU eine Alarmschwelle von 400 μg/m3 festgelegt. Wird dieser Wert in drei aufeinanderfolgenden Stunden an Orten gemessen, die für die Luftqualität in Bereichen von mindestens 100 km2 oder im gesamten Gebiet/Ballungsraum repräsentativ sind, muss der betroffene Mitgliedsstaat umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen.
Diese Verschärfung des NO2-Jahresmittelgrenzwerts hat zu der aktuellen Diskussion geführt, da die NO2-Jahresmittelwerte an starkbefahrenen Straßen – an denen die Messstationen in unmittelbarer Nähe der Bordsteinkante liegen – nicht so schnell sinken, wie von den Umweltbehörden gewünscht. Die Gründe dafür werden später noch erläutert. Die Schärfe des NO2-Jahresmittelgrenzwerts wird aus mehreren Gründen kritisiert:
In USA gilt beispielsweise ein NO2-Jahresmittelgrenzwert von 100µg/m3, in Kalifornien – bekannt für eine sehr strenge Regelungen – gilt 57µg/m3. Anfragen von deutschen Politikern, ob der Europäische Grenzwert nicht überdacht werden könnte, sind gescheitert.
In den USA gilt nach der Vorgabe der für die nationalen Umweltstandards zuständigen Gesundheitsbehörde EPA seit 2010 ein zu den EU-Kriterien annähernd vergleichbarer 1-Stunden-Grenzwert (100 ppb beziehungsweise 200µg/m3), aber ein gut doppelt so hoher Grenzwert für das Jahresmittel wie in der EU (53 ppb beziehungsweise 100µg/m3). In Kalifornien und sechzehn weiteren US-Bundesstaaten hingegen beträgt der Grenzwert für das Jahresmittel nur 30 ppb beziehungsweise 57 µg/m3.
Die Kritik zum Jahresmittelgrenzwert von 40 µg/m3 kommt von mehreren Seiten. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin, Hans Drexler, hat vor Panikmache im Streit um Grenzwerte und Dieselfahrverbote gewarnt.2 „Auch bei 100µg/m3 NO2 sehen wir noch keinen Effekt, der krank machen kann“, sagte der Erlangener Professor der dpa.3 An der Landshuter Allee in München wurde im vergangenen Jahr ein Jahresdurchschnittswert von 78µg/m3 gemessen, am Neckartor in Stuttgart liegt der Messwert ähnlich hoch. Wenn Politik und Gesellschaft Grenzwerte mit Sicherheitsfaktor haben wollten, sei das eine gesellschaftliche Entscheidung, sagte Drexler. Er kritisierte Aussagen, wonach NO2 in Deutschland jährlich 12860 vorzeitige Todesfälle verursache: „Durch Berechnungen von Stickoxid auf Tote zu schließen, ist wissenschaftlich unseriös.“ Gefährlich sei Feinstaub, „ein Killer, das bleibt in den Zellen hängen, schadet der Lunge, verursacht Herzinfarkte. Aber NO2 ist kein Vorläufer von Feinstaub“, sagte der Arbeits- und Umweltmediziner,4 der den NO2-Grenzwert für Industriearbeitsplätze in Deutschland mit erarbeitet hat. Dieser Wert liegt bei 950µg/m3.
Der Unterschied
Stickstoffdioxid NO2Die 950µg/m3 gelten für gesunde Erwachsene, 40 Stunden die Woche, ein Arbeitsleben lang. Sorgfältige Laborstudien mit Freiwilligen und Erfahrungen von Menschen, die im Steinkohlebergbau arbeiten, zeigen bis 950µg/m3 keine klaren Effekte. Ratten, die monatelang 9500µg/m3 ausgesetzt waren, zeigten erste Veränderungen an den Lungen. In Tierversuchen mit rund 4000µg/m3 NO2 sind keine Effekte feststellbar. Nach dem Vorgehen der DFG-Kommission wurde daraus eine Arbeitsplatzgrenzwert von 950µg/m3 abgeleitet. Bei dem Außenluftgrenzwert geht es um verschiedene Zielgruppen: Kinder, Alte und Asthmakranke, die ihr ganzes Leben lang 40µg/m3 einatmen, sollen keinen Schaden erleiden. Die Grenzwerte beruhen oft auf unterschiedlichen Daten. In einer Studie wurde festgestellt, dass Kinder in Wohnungen mit Gasherd häufiger krank wurden als in Wohnungen mit Elektroherd. Die Weltgesundheitsorganisation WHO machte NO2 dafür verantwortlich. Daraus leitete sie einen Grenzwert von 40µg/m3 ab. Die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat diese Studie zur Grenzwertableitung nicht herangezogen.5
Die Deutsche Umwelthilfe sagt, in Deutschland verursache NO2 jährlich 12860 vorzeitige Todesfälle. Die Messstation mit dem höchsten Wert 2017 in Deutschland ist mit 78µg/m3 die Landshuter Allee am Mittleren Ring in München. Müssen Anwohner fürchten, krank zu werden und früher zu sterben?
Tote, da entsteht Angst. Man sollte schon seriös bleiben. Zum einen, was heißt vorzeitige Todesfälle? Geht es um Jahre, Tage oder um Minuten verlorene Lebenszeit? Zum anderen halte ich diese Zahlen nicht für wissenschaftlich gut begründet. Durch Berechnungen von NOx auf Tote zu schließen, ist wissenschaftlich unseriös. Feinstaub ist „ein Killer, das bleibt in den Zellen hängen, schadet der Lunge, verursacht Herzinfarkte“, wie der Umweltmediziner Drexler feststellte.6 Aber NO2 ist kein Vorläufer von Feinstaub. Stickoxide kann man dem Diesel anlasten – Feinstaub nicht.
Muss der 40µg/m3-Grenzwert strikt durchgesetzt werden?
Ein messbarer Effekt beim Treppenstiegen ist ein Anstieg von Puls- und Atemfrequenz. Das macht den Menschen aber nicht krank. Ein Grenzwert soll verhindern, dass messbare Effekte Menschen krank machen. Auch bei 100µg/m3 NO2 sehen wir noch keinen Effekt, der krank machen kann. Wenn Politik und Gesellschaft Grenzwerte mit Sicherheitsfaktoren haben wollen, ist das deren Entscheidung. Das ist keine Sache der Wissenschaftler.
Drexler: „Ich hielte Fahrverbote für medizinisch nicht begründbar, wenn man die Stickoxidbelastungen als Grundlage heranzieht.“7
In der Debatte um mögliche Gesundheitsschäden durch Stickstoffdioxid (NO2) schlägt ein früheres Mitglied der Regierungskommission für Bevölkerungsschutz, der Arzt und Biochemiker Professor Alexander Kekulé, die Angleichung der europäischen Grenzwerte an die in den USA gültigen Werte vor. Im Interview am 30. Januar 2019 mit dem NDR plädiert Kekulé dafür, den derzeit gültigen Grenzwert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft auf 100 Mikrogramm anzuheben und sich damit dem US-amerikanischen Grenzwert anzuschließen. Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass im Bereich zwischen 40 und 100 Mikrogramm durch NO2 verursachte gesundheitliche Schäden auftreten. Die US-amerikanische Umweltbehörde sei in einer großen Studie 2018 erneut zu dieser Bewertung gekommen.8