DAS DING AUS DEM SEE. Greig Beck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greig Beck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958355361
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hielt der Russe eine Hand hoch und der Druck ließ nach. Er schob den Vertrag in seine Richtung.

      »Eine ganz einfache Entscheidung; unterschreiben oder sterben!«

      Marcus hustete gequält. Seine Stimme war heiser. »Sie brauchen mich, Sie können mich nicht töten.«

      Tushino nickte wieder und einer der riesigen Männer, die seine Arme festhielten, packte blitzschnell einen seiner Finger, um ihn mit einem Ruck nach hinten zu reißen, bis dieser zerbrach wie ein trockener Stock.

      Marcus heulte wegen der unerträglichen Schmerzen auf.

      »Unterschreiben Sie.« Tushinos Blick wirkte amüsiert.

      »Du … Hurensohn.« Marcus biss die Zähne zusammen.

      Tushino nickte wieder und ein weiterer seiner Finger wurde gepackt.

      »Warten Sie«, schrie Marcus.

      Doch das tat er nicht. Der Finger wurde nach hinten gerissen und gebrochen wie der erste. Tränen liefen Marcus Wangen hinab, und er sah, dass zwei seiner Finger in vollkommen verkehrten Winkeln abstanden.

      »Nummer drei?«, spottete Tushino.

      »Nein, nein, ich unterschreibe. Ist ja schon gut.« Marcus brauchte dringend Zeit zum Nachdenken, aber er hatte keine.

      »Gut.« Der Russe schob den Vertrag nach vorn und hielt ihm erneut den Füller hin.

      Tushinos Schläger ließen jetzt seine Arme los, legten ihre Pranken aber auf seine Schultern. Marcus nahm den Füller und kritzelte auf das Blatt. Dann ließ er den Stift fallen.

      »Fickt euch doch!«

      Der russische Bratwa-Boss ignorierte die Beleidigung, drehte den Vertrag um und musterte ihn sorgfältig. »Danke, Mr. Stenson. Jetzt sind meine Geschäfte mit Ihnen abgeschlossen. Auf Wiedersehen.« Er nickte kurz und Marcus wurde aus seinem Sitz gezerrt.

      »Hey.« Er wurde jetzt durch den Gang des Waggons zum Ausgang des letzten Wagens geschleift, und sobald er im Freien stand, wurde er sofort von dem ohrenbetäubenden Lärm der Stahlräder auf den Eisenschienen und dem eisigen Wind attackiert, der wie tausend Banshees heulte.

      Einer der Schläger sagte auf Russisch etwas zu ihm, lachte dann grausam und warf ihn kurzerhand aus dem fahrenden Zug.

      ***

      Marcus schleppte sich stundenlang dahin, den Kragen seiner SeaWorld-Jacke hochgezogen, die verstümmelte Hand vorsichtig in der anderen haltend. Seine Schulter fühlte sich ausgekugelt an, sein Gesicht war an mehreren Stellen aufgeschürft, sein Handy war verschwunden und er konnte seine Nase und die Spitzen seiner Ohren nicht mehr spüren. Aber wenigstens war er noch am Leben.

      Der Mond war nicht zu sehen und er lief, so dicht er es wagte, an den Bahnschienen entlang, in der Hoffnung, dass er es auf diese Weise innerhalb der nächsten paar Stunden nach Listvyanka zurückschaffen würde. Die Temperatur sank stetig und er hätte gerade alles, was er besaß, für einen Hut gegeben, der ihm über die Ohren reichte, denn er wettete, dass diese mittlerweile blutrot waren, und falls er noch länger draußen blieb, könnten sie sogar blau und dann schwarz werden.

      Der Temperaturrückgang könnte allerdings auch bedeuten, dass er sich möglicherweise dem See näherte. Er erinnerte sich nämlich daran, dass der Zug für einige Kilometer nahe am Wasser entlang gefahren war, als er die Stadt verlassen hatte.

      Jetzt ist es nicht mehr weit, das hoffte er zumindest.

      Der Vorteil an der Kälte war, dass seine Finger irgendwann zu pochen aufgehört hatten. Er hasste es, das verdrehte Ding, das einmal seine Hand gewesen war, anzuschauen. Er würde heimfahren müssen, um sie richten zu lassen, damit seine Finger auch wieder ordentlich zusammenwuchsen. Schließlich brauchte er seine Hände.

      »Arthritis, ich komme.« Er kicherte, doch das Geräusch wurde sofort vom beißenden Wind aufgesogen.

      Ein paar hundert Meter entfernt glaubte er, die dunkle Eisdecke erkennen zu können, die die Seeoberfläche kennzeichnete, und kurz darauf entdeckte er ein grünes Glühen, das sich direkt hinter der Baumlinie befand. Es sah äußerst seltsam aus.

      »Was ist das?«, fragte er laut, vielleicht um sein eigenes Selbstvertrauen zu stärken.

      Der Wind schien jetzt ein bisschen abzuflauen und es kam ihm so vor, als liefe er durch ein Vakuum. Das einzige Geräusch kam jetzt von seinen Füßen, die den Schnee knirschen ließen. Dann hörte er plötzlich Schritte. Sie waren schwer und die Füße waren garantiert wesentlich größer als seine.

      Er blickte ängstlich über seine Schulter, konnte aber nichts sehen. Dann schaute er nach rechts und links und dachte darüber nach, ob er die Eisenbahnschienen überqueren sollte.

      Marcus spürte jetzt ein nervöses Flattern im Bauch. Die Lagerfeuergeschichten, die ihm die Jakut-Russen erzählt hatten, kamen ihm natürlich passenderweise schlagartig wieder in den Sinn, und plötzlich verstand er, wie sich Aberglaube ausbreitete. Er sah wieder nervös über seine Schulter.

      »Reiß dich zusammen, Kumpel«, flüsterte er und drehte sich in dem Moment wieder um, als ein Schatten über ihn fiel. Er musste den Hals recken, um das Gesicht sehen zu können, und als er es sah, verschlug es ihm fast den Atem.

      Marcus konnte es nur mit offenem Mund anstarren. Er wusste zwar genau, was jetzt kommen würde, aber er dachte seltsamerweise nicht an sich, sondern an Sara, die ihm ihre gewölbten Hände entgegenstreckte. Sie öffnete sie und zeigte ihm den kleinen grünen Vogel, der es sich dort gemütlich gemacht hatte, und der sich in seiner Erinnerung immer darin angeschmiegt hatte. Nur, dass er dieses Mal plötzlich davonflog.

      Sein Schrei erstarb abrupt, als es ihn holte.

      KAPITEL 10

       Nordküste des Baikalsees – 1602

      

      »Was war das?«

      Wassili setzte sich im Dunkeln erschrocken auf und griff nach seiner Schaschka, einem speziellen, gebogenen Kosaken-Säbel, wie ihn beide Männer trugen. Kurbat war auch sofort hellwach und saß einige Augenblicke lang horchend da. Das Geräusch erklang kurz darauf wieder – ein Knacken wie von zersplitterndem Holz oder …

      »Brechendes Eis!«

      Wassili runzelte die Stirn. »Taut es vielleicht?«

      »Nein, nicht um diese Jahreszeit«, antwortete Kurbat. »Das muss etwas anderes sein.«

      Die beiden lauschten weiter, und tatsächlich erklang das Knacken erneut, dieses Mal in Begleitung von dem Geräusch prasselnden Wassers. Kurbat fachte das Feuer an, innerhalb weniger Minuten brannte es und das Licht schuf ein Leuchten im Umkreis von fünfzehn Metern um die Männer herum.

      Das tiefe Knacken hielt an, wurde lauter, und kam anscheinend sogar näher. Kurbat Kolesnikov und Wassili Ivanov waren seit über einem Jahrzehnt miteinander befreundet und hatten es während ihres Lebens schon mit riesigen Bären, wilden Stammesangehörigen, Wolfsrudeln und absolut scheußlichem Wetter zu tun gehabt und trotzdem jedes Mal die Oberhand behalten. Sie waren nicht leicht zu erschrecken.

      »Wir gehen nachschauen.« Kurbat entzündete eine Laterne und schnappte sich außerdem einen Speer.

      Wassili folgte ihm mit einer brennenden Fackel und seinen eigenen Waffen. Kurbat war als Erster an der Uferlinie, er hielt die Laterne hoch und beugte sich vor.

      »Schau mal, das Eis ist aufgebrochen.«

      Tatsächlich war eine große Eisbahn, dem Aussehen nach über einen Meter dick, nach oben und hinten geschoben worden wie die Falten einer Bettdecke.

      »Ich sehe ein Licht«, flüsterte Wassili. »Es scheint unten aus dem Wasser zu kommen.« Er stand langsam auf, blieb aber hinter einem Baumstamm stehen. »Wie kann Feuer denn bitteschön unter Wasser brennen?«

      »Kein