Emma erbt. Armand Amapolas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Armand Amapolas
Издательство: Bookwire
Серия: Emma auf Teneriffa
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9788494342998
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Strecke nicht kennt, verpasst die Ausfahrt gern.«

      Es ging stramm bergauf. Als sie ein rußender Laster blockierte, schaltete Pedro in den zweiten Gang zurück.

      »Diese Abkürzung an Santa Cruz vorbei gibt es auch erst seit ein paar Jahren. Wir steigen jetzt ganz schnell auf 600 Meter hoch. Da rechts übrigens ist das Fußballstadion von Santa Cruz.«

      Emma begeisterte sich nicht mehr für Fußball, als es im Ruhrgebiet unvermeidbar ist, besonders, wenn man wie sie ihr Leben praktisch im Zwischenraum zwischen Schalke und dem BVB verbracht hat – wenn es da einen Zwischenraum gab –, aber dieses Stadion gefiel ihr. Es war erst gar nicht zu sehen. Es dominierte nicht protzig die Landschaft wie die aufgeblasene Arena bei München oder die auf Schalke. Es duckte sich, elegant geschwungen, in eine Mulde und schien nicht aus Glas, Beton und Plastik zu bestehen, sondern hier gewachsen zu sein.

      »Interessante Architektur.«

      »Davon gibt es hier neuerdings eine Menge. Klötze wie unser La Palma hätten heute keine Chance auf Baugenehmigung mehr. Überhaupt, das siehst du ja, ist fast jeder freie Raum schon zugebaut.«

      In der Tat fuhren sie seit dem Autobahnwechsel permanent durch bebauten Raum. Eine Stadtlandschaft, wildes urbanes Durcheinander.

      »Santa Cruz und La Laguna, die Universitätsstadt auf der Höhe, sind praktisch zusammengewachsen. Der letzte Schrei ist eine Straßenbahn, die beide Zentren verbindet. Übrigens, wenn du Lust dazu hast, machen wir einen Stopp am Rand des Orotavatals. Da siehst du auf einen Blick, was sich auf Teneriffa in deiner Abwesenheit getan hat.«

      »Gerne. Wenn du Zeit dafür hast. Ich werde von niemandem erwartet.«

      »Ich auch nicht, zum Glück.«

      Sie hatten den Nordflughafen passiert und den Atlantik jetzt vor sich, auf der Nordseite der Insel. Der Charakter der Landschaft änderte sich zum zweiten Mal radikal. Von Beige und Grau zu Grün. Nach Wüstenei und Großstadt schienen sie jetzt durch einen endlosen Garten zu fahren. Der allerdings auch überall durchsiedelt war. Zersiedelt, wie Emma fand. Allerdings nicht mit Hochhäusern. Hochhäuser waren erst wieder zu sehen, als in der Ferne vor ihnen Puerto de la Cruz auftauchte. Pedro setzte den Blinker und verließ die Autobahn.

      »Wir fahren zum Mirador de Humboldt.«

      »Der Humboldtblick! Daran kann ich mich erinnern. Da gab‘s ein deutsches Café, wo meine Großeltern gerne hingefahren sind. Mit tollem Blick übers Tal. Und der Apfelkuchen war gut.«

      »Das Café gibt‘s glaube ich sogar noch. Vielleicht sogar den Apfelkuchen. Aber der Mirador Humboldt ist neu. Die Architektur wird dir gefallen. Ist ähnlich wie die des Stadions.«

      Sie parkten an einer Landstraße dicht vor einem flachen, unscheinbaren, bunkerähnlichen, grauen Bau. Durch ein enges Tor betraten sie eine immer breiter werdende Terrasse. Jenseits eines Mäuerchens erstreckte sich wie eine halbe Schüssel ein weites Tal. Die andere Hälfte der Schüssel schien der Atlantik verschluckt zu haben. Auf dem Mäuerchen saß in lässiger Haltung ein junger Mann, ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt, und lächelte versonnen. Er saß da offensichtlich immer. Er war aus Bronze.

      »Darf ich vorstellen«, Pedro imitierte eine höfische Verbeugung: »Herr von Humboldt – Emma Schneider von der Ruhr.«

      Emma legte einen artigen Knicks hin und reichte Herrn von Humboldt ihre Hand zum Kuss. Doch, so wie der junge Kupferkerl aussah, hätte sie sich von ihm durchaus küssen lassen mögen. Vielleicht sogar nicht nur die Hand.

      »Ich wusste gar nicht, dass Humboldt so gut ausgesehen hat. Aber klar, er war jung. Wir stellen uns die Klassiker ja immer als alte, weise Männer vor.«

      »Also eher so wie mich?«

      Emma musterte Pedro mit strenger Miene prüfend.

      »Nein, so auch wieder nicht. Dir fehlt es noch an Reife.«

      Sie fanden einen freien Tisch ganz dicht an der Balustrade. Unter ihnen schlängelte sich die Autobahn zwischen Bananenplantagen und Siedlungsfetzen dem Talende entgegen. Beim Anblick der Autos musste Emma an Blutkörperchen denken, die rasch und ohne Unterlass in beide Richtungen eilten, die Zivilisation in ihrem Kampf mit der Natur versorgend. In welchem Film hatte sie das noch mal gesehen? Egal. Die Zivilisation schien hier im Tal die Oberhand zu behalten, einstweilen. Aber was wäre, wenn die Blutkörperchen nicht mehr rollten, dachte Emma? Dann wäre bald wieder alles nur grün. Der Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« fiel ihr jetzt ein, wo es in einer Stadt nicht mehr aufhören will zu regnen und der Urwald schließlich alles überwuchert, was Menschen ihm abgetrotzt hatten.

      Pedro hatte sie beobachtet und offenbar ihre Gedanken gelesen.

      »Als Alexander von Humboldt hier war und behauptete, dies sei eine der schönsten Ansichten, die es auf der Erde gebe, muss das Tal wirklich wie ein Garten Eden ausgesehen haben. Die einzigen Häuser darin, das war die Altstadt von La Orotava da unten, die jetzt kaum erkennbar ist, weil so viele Neubauten drumherum stehen.«

      Der Kellner servierte zwei Cortados, und Pedro zeigte auf eine Ansammlung weißlicher Bauten, die wie ein heller Kuhfladen im Grün des Tales lag.

      »Sonst gab es da unten früher nur einzelne Herrenhäuser in den Plantagen und den Hafen, Puerto eben.« Pedro deutete nach rechts, wo sich in der Tiefe unter ihnen Hotelhochhäuser um eine kleine Bucht herum knubbelten. Jedenfalls sah die Bucht von hier oben winzig aus, wie in einer Märklin-Landschaft. Nur ohne Eisenbahn.

      »Puerto war damals, also vor zweihundert Jahren, ein kleiner Hafen mit Kirche und ein paar Häusern, mehr nicht. Und dann muss man sich vor Augen halten, dass Humboldt dieses üppig bewachsene Tal vor dem Hintergrund des kahlen Teide gesehen hat und der Vulkanfelder, durch die er gewandert ist. Humboldt blieb ja nur ein paar Tage hier, ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Südamerika, er hat sich aber nichts entgehen lassen. Und seine Sprüche sind natürlich Gold wert, für die Tourismusindustrie.«

      »Im Grunde war er der erste Tourist.«

      »Jedenfalls der erste deutsche. Die Engländer waren natürlich auch damals schon hier. Sie beherrschten ja die Meere. Richtig losgegangen ist es aber erst hundert Jahre später. Und vollends ab ging die Post, als die Flugzeuge kamen.«

      »Oma hat mal erzählt, auch im La Palma gebe es Engländer.«

      »Ja, aber das sind Exoten. Angepasste Exoten, die merkwürdigerweise gerne Rotkohl essen. Das La Palma ist fest in deutscher Hand. Allerdings kommen jetzt die Chinesen und Russen.«

      »Im Ernst? Was wollen die denn hier?«

      »Keine Ahnung. Rotkohl essen? Nein, Geld anlegen, nehme ich an. Übrigens glaube ich nicht, dass sich deine Oma selbst das Leben genommen hat.«

      »Wie bitte?« Emma glaubte, sich verhört zu haben. »Was willst du damit sagen?«

      »Ja, ich weiß, das klingt, als würde ich zu oft Tatort gucken. Aber Ilse war erstens nicht krank, zweitens kein bisschen depressiv, im Gegenteil, und drittens hatte sie Angst.«

      »Angst? Vor wem denn?«

      »Ja, wenn ich das so genau wüsste. Vielleicht müsste es auch nicht heißen: vor wem? Sondern: vor was?«

      »Das verstehe ich erst recht nicht.«

      »Ich kann es dir auch nicht richtig erklären. Jedenfalls hatte Ilse in den letzten Monaten eine Unruhe an sich, die eigentlich nicht zu ihr gepasst hat. Sie wollte nicht drüber reden, aber ich hatte den Eindruck, sie fühlte sich verfolgt.«

      »Wieso um Himmels willen sollte irgend jemand meine Oma Ilse ›verfolgen‹, eine Greisin aus Wanne-Eickel, die außer Fischen und vielleicht meinem verstorbenen Opa Heinrich keiner Seele je etwas angetan hat?«

      Pedro zuckte mit den Schultern und blickte in die Ferne.

      »Wenn du da hinunter schaust, sieht dieses Tal paradiesisch aus, und das La Palma – dahinten kann man übrigens eine Ecke davon erkennen – wie eine Perle im Paradiesgarten. Aber auch im Paradies, du wirst dich erinnern, hat es Schlangen gegeben.«