Ueber den Genius, den er zu besitzen vorgab, und der ihn, wie er sagte, allzeit abhielt, wenn er etwas Schädliches unternehmen wollte, sind die Meynungen der Gelehrten getheilt. Einige glauben, Sokrates habe sich hierinn eine kleine Erdichtung erlaubt, um bey dem abergläubischen Volk Gehör zu finden; allein dieses scheint mit seiner gewöhnlichen Aufrichtigkeit zu streiten. Andre verstehen unter diesem Genius ein geschärftes Gefühl vom Guten und Bösen, eine durch Nachdenken, durch lange Erfahrung und anhaltende Uebung zum Instinkt gewordene moralische Beurtheilungskraft, vermöge welcher er jede freye Handlung nach ihren muthmaßlichen Folgen und Wirkungen prüfen und beurtheilen konnte, ohne sich selbst von seinem Urtheil Rechenschaft geben zu können. Man findet aber beym Xenophon so wohl als Plato verschiedene Vorfälle, wo dieser Geist dem Sokrates Dinge vorher gesagt, die sich aus keiner natürlichen Kraft der Seele erklären lassen. Vielleicht sind diese von seinen Schülern aus guter Meynung hinzu gesetzt worden; vielleicht auch hatte Sokrates, der, wie wir gesehen, zu Entzückungen aufgelegt war, selbst Schwachheit oder schwärmende Einbildungskraft genug, dieses lebhafte moralische Gefühl, das er nicht zu erklären wußte, in einen vertraulichen Geist umzuschaffen, und ihm hernach auch diejenigen Ahndungen zuzuschreiben, die aus ganz andern Quellen entspringen. Muß denn ein vortrefflicher Mann nothwendig von allen Schwachheiten und Vorurtheilen frey seyn? In unsern Tagen ist es kein Verdienst mehr, Geistererscheinungen zu verspotten. Vielleicht hat zu den Zeiten des Sokrates eine Anstrengung des Genies dazu gehört, die er nützlicher angewendet hat. Er war ohnedem gewohnt, jeden Aberglauben zu dulden, der nicht unmittelbar zur Unsittlichkeit führen konnte, wie bereits oben erinnert worden.
Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts war sein einziges Studium. So bald ein Vorurtheil oder Aberglaube zur offenbaren Gewaltthätigkeit, Kränkung der menschlichen Rechte, Verderbniß der Sitten u. s. w. Anlaß gab: so konnte ihn nichts in der Welt abhalten, aller Drohung und Verfolgung zum Trotze, sich dawider zu erklären. Es war unter den Griechen ein hergebrachter Aberglaube, daß die Schatten der unbegrabenen Todten am Ufer des Styx hundert Jahre rastlos herumirren müßten, bevor sie herüber gelassen würden. Dieser Wahn mag dem rohen Volk von dem ersten Stifter der Gesellschaft aus löblichen Absichten beigebracht worden seyn. Indessen hat er zu den Zeiten des Sokrates, durch einen schändlichen Mißbrauch, manchen wackern Patrioten das Leben gekostet. Die Athenienser hatten bey den Arginusinischen Inseln über die Lacedämonier einen vollkommenen Sieg erhalten. Die Befehlshaber der siegenden Flotte wurden aber durch einen Sturm abgehalten, ihre Todten zu begraben. Bey ihrer Rückkunft nach Athen wurden sie, auf die undankbarste Weise, dieser Unterlassung halben öffentlich angeklagt. Sokrates hatte denselben Tag den Vorsitz in dem Senat der Prytanen, welche die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen hatten. Die Bosheit einiger Mächtigen im Reiche, die Heucheley der Priester und die Niederträchtigkeit feiler Redner und Demagogen, hatten sich vereinigt, den blinden Eyfer des Volks wider diese Beschützer des Staats aufzubringen. Das Volk drang mit Ungestüm auf ihre Verdammung. Ein Theil des Senats war selbst von diesem pöbelhaften Wahne bethört; und der Ueberrest hatte nicht Muth genug, sich der allgemeinen Raserey zu widersetzen. Alles willigte darein, diese unglücklichen Patrioten zum Tode zu verurtheilen. Nur Sokrates allein hatte die Herzhaftigkeit, ihre Unschuld zu vertheidigen. Er verachtete die Drohungen der Mächtigen, und die Wut des aufgebrachten Pöbels, stand ganz allein auf der Seite der verfolgten Unschuld, und wollte lieber das Aergste über sich ergehen lassen, als in eine so heillose Ungerechtigkeit willigen. Wiewohl alle seine Bemühungen zu ihrem Besten dennoch fruchtlos abliefen. Er hatte den Verdruß, zu sehen, daß der blinde Eyfer die Oberhand erhielt, und daß die Republik sich selbst die Schmach anthat, ihre tapfersten Beschützer einem übelverstandenen Vorurtheil aufzuopfern. Das Jahr darauf wurden die Athenienser von den Lacedämoniern auf das Haupt geschlagen, ihre Flotte zu Grunde gerichtet, ihre Hauptstadt belagert und dergestalt aufs Aeußerste gebracht, daß sie sich den Siegern auf Gnade und Ungnade ergeben mußte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Mangel an erfahrenen Anführern auf Seiten der Athenienser an dieser Niederlage nicht wenig Schuld gewesen.
Lysander, der Feldherr der Lacedämonier, der die Stadt eingenommen hatte, begünstigte eine in derselben entstandene Empörung, verwandelte die demokratische Regierungsform in eine Oligarchie, und setzte einen Rath von dreyßig Männern, die unter dem Namen der dreyßig Tyrannen bekannt sind. Die grausamsten Feinde hätten in der Stadt so nicht wüten können, als diese Ungeheuer gewütet haben. Unter dem Vorwande, Staatsverbrechen und Meuterey zu bestrafen, wurden die rechtschaffensten Leute im Staat ihres Lebens oder ihres Vermögens beraubt. Plündern, rauben, verbannen, diesen öffentlich, jenen meuchelmörderisch hinrichten lassen, waren Thaten, mit welchen sie ihre Regierung bezeichneten. Wie mußte das Herz des Sokrates bluten, den Kritias, der vormals sein Schüler war, an der Spitze dieser Scheusale zu sehen! Ja, dieser Kritias, sein vormaliger Freund und Zuhörer, zeigte sich nunmehr als seinen offenbaren Feind, und suchte Gelegenheit, ihn zu verfolgen. Der weise Mann hatte ihm einst seine viehische und widernatürliche Geilheit mit harten Worten verwiesen, und seit der Zeit trug ihm der Unmensch einen heimlichen Groll nach, der jetzo auszubrechen Gelegenheit suchte.
Als er und Charikles zu Gesetzgebern ernennt wurden, führten sie, um eine Ursach an dem Sokrates zu finden, das Gesetz ein, daß niemand in der Redekunst unterrichten sollte. Sie erfuhren darauf, daß sich Sokrates mit Worten wider sie vergangen, und verschiedentlich habe verlauten lassen, es