»Noch eine Furche und dann ist Schluß!« rief Johnny den beiden anderen zu und setzte von neuem den Pflug auf die Erde; der Japaner ging vorwärts, und Habakuk sang den Psalm im Vesperton aus. In diesem Augenblick bockte die Pflugschar und stieß an etwas an; sie stieg wie ein scheuendes Pferd in die Höhe und legte sich seitwärts um. »Verflucht noch mal«, rief Johnny verärgert — dann gruben sie gemeinsam einen mächtigen Torso aus. »Was is‘n das, Habakuk?« fragte Johnny. »Wo kommt dieser Kerl denn her?« Die letzte Frage war ganz idiotisch, denn damals waren die Dinge aus aller Welt durcheinander gewirbelt und irgendwo abgesetzt worden; auch Habakuks Wanderniere ging wahrscheinlich darauf zurück.
»Woher soll ich ihn kennen, Gott der. Gerechte? Zwei Mark und fünfzig, kein Pfennig mehr, denn es ist bloß ein Gipsabguß«, erwiderte Habakuk.
Sie hockten jetzt um den Torso herum, der Japaner befühlte die Muskeln des kopf- und beinlosen Mannes; den Bizeps der beiden Oberarme und den mächtigen Brustkorb, die schöne flache und doch kräftige Bauchdecke, die sich zum Ansatz der Schenkel hin verjüngte. Endlich blickten die Männer einander prüfend an und dann wieder auf den Torso. »Ich finde, er sieht dir ähnlich, Johnny«, sagte Habakuk schließlich und fügte hinzu: »Ich meine das natürlich nicht deshalb, weil einiges an ihm fehlt.«
»Ich finde, er sieht uns allen ähnlich«, gab Johnny unbeleidigt zurück und starrte mit versunkenem Ausdruck auf den verstümmelten Mann. »Übrigens kommt es mir immer mehr vor, als ob ich ihm schon früher einmal begegnet wäre. Es wird wahrscheinlich im Omnibus von Cook gewesen sein. Die Stadt fing mit A an —« »Akropolis«, sagte Habakuk wie aus der Pistole geschossen. »Aber das war dann der richtige Mann und nicht sein Gipsabguß.«
»Ich find‘ auch den sehr hübsch«, meinte Johnny, von Andenkenwut gepackt. »Auf jeden Fall wird sich Evelyne freuen, denn er paßt auf ihr Vertiko. Oder will ihn ein anderer haben?«
Es stellte sich heraus, daß die andern den Mann nicht haben wollten — Habakuk nicht, weil ihm eine Kopie, wie er sagte, gegen den Strich ging; der Japaner nicht, weil er nicht wußte, wohin er ihn stellen sollte. Sie pflügten dann ihre letzte Furche und gruben noch etwas Zweites aus, das weniger wirkungsvoll war. Trotzdem freuten sich alle sehr, denn das Ding war aus Holz und war deshalb ganz unbeschädigt geblieben: ein Autoschild mit zwei gekreuzten Knochen und großer lateinischer Schrift.
»Kannst du lesen, Habakuk?« fragte Johnny. Habakuk meinte, das wäre gelacht, und buchstabierte den Text. »Achtung! Fahrt langsam an dieser Biegung! Der Tod ist dauerhaft.«
»Aha«, sagte Johnny erleichtert. »Jetzt wissen wir wenigstens wieder, wo wir eigentlich sind.«
DAS STILLEBEN
Die schneiderbüste, mit schwarzem lüster straff und glatt überzogen, stand leer; die Form ihres drollig geschwungenen Beinchens glich einem von einem Zuckerbäcker mit der Spritze geformten Aufsatz einer süßen Kirschbaisertorte. Vor der Büste war ein niedriger Hocker mit allerlei Bric à Brac: einer hübschen kleinen Schale zum Beispiel von italienischer Herkunft, welche als Aschbecher diente, und im Fond einen springenden Hasen zeigte, dessen erdbrauner Leib von dem Ornament einer ringsum laufenden Thymianranke mit zierlichen Blättchen eingefaßt war, zwischen denen, immer in gleichem Abstand, eine blaurote Blüte saß. Die angerissene Packung bulgarischer Zigaretten und ein blaßblaues Schächtelchen aus Valencia mit kurzen Wachszündhölzchen lehnten gegen den Ascher; aus der Packung leckte die glänzende Zunge des harten Stanniolpapiers. Bunte Armbänder aus geschmolzenem Glas, ein paar schwere getriebene Silberringe, deren plumpe Fassung den tiefroten Tropfen sehr großer Korallen umschloß, und eine Kette, aus Kupferkugeln und Paranüssen zusammengestellt, waren übereinander geschoben und glichen üppigen, rohen Träumen, die liegengeblieben waren. Ein glasierter Tonteller, ockergelb mit dunkelgrünen Spiralen, stand mitten auf dem Tischchen. Er war angehäuft mit Paprikaschoten, welche noch unreif waren, rötlich getupften Mirabellen, die einen graublauen Überzug aus Atmosphäre trugen, und Frühsommerbirnchen, die Zipfelmützen durcheinandergepurzelter Gnome glichen und Stiele hatten, die doppelt so lang wie die blaßgelbe Mütze waren. Quer über dem Hocker — ein kräftiger Strich aus kalkweißem Ziegenleder — lag ein Paar Handschuhe, unten am Boden standen auf hohen Hacken die silbernen Sandaletten, das Kleid war über den Stuhl geworfen: ein Hauch wie Südsee — schwarzblauer Schaum mit großen Margeriten.
Das alles vor einem abgeschrägten, durch bleigefaßte Quadrate aus Glas unterteilten Atelierfenster; eine Scheibe war hochgestellt, und das Viereck, von unwahrscheinlicher Helle erfüllt, sparte ein Stück des Morgenhimmels in seiner Öffnung aus.
Dieses Viereck, wie ein strahlendes Auge, stand unverändert und regungslos in dem diffusen, zartgrauen Licht des Schneiderateliers. Es stand an jenem heiteren Sonntag fast ohne Wolken und ohne die Zuckung vorüberschießender Schwalben über dem niedrigen Hocker und seinem Bric à Brac. Eine Flasche Bordeaux wäre noch zu erwähnen, welche ausgetrunken am Boden lag und die Aufschrift »Entredeux-Mers« gegen den Himmel kehrte.
Im übrigen war das Atelier leer; so leer und so unbeachtet von Menschen, daß die Schneiderbüste es wagen konnte, sich langsam um sich selber zu drehen — langsam und feierlich auf dem dünnen, drollig gedrehten Säulchen wie ein antiker Chor. Sie drehte sich in der Richtung des Uhrzeigers unermüdlich und ohne innezuhalten vom Morgen bis zum Abend an den hübschen kleinen Dingen vorüber, die, hätte die Schneiderbüste einen Kopf auf den Schultern getragen, in ihr Blickfeld gekommen wären: an dem Schälchen mit dem springenden Hasen, dem blaßblauen Schächtelchen aus Valencia, dem Teller mit den Paprikaschoten, den Mirabellen, den Frühsommerbirnen, den bunten Armbändern und den Ringen, die ab und zu winzige Feuerfunken und zornige kleine Blitze entließen, die wie aus dem Innern der Erde zurückgeschleudert waren. Sehr spät erst, mit Sonnenuntergang, kam die kreisende Büste zur Ruhe. Sie stand jetzt, gemessen an einer Welt, die sie umwandelt hatte, wie zu dem Pol der Nadir. Es wurde kühl, es wurde sehr dunkel . . . die Farben vergingen und auch die Formen — und endlich wurde es Nacht.
Man schrieb den 22. Juni des Jahres 41.
SAISONBEGINN
Die arbeiter kamen mit ihrem schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Paßkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen — die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen . . . Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder