Das Erbe sind wir. Michael Meyen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Meyen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783869625768
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Heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum wird Hans Poerschke das Wort ›Landnahme‹ verwenden und es schaffen, Reimers dabei nicht persönlich anzugreifen. Poerschke weiß, dass es keine akademische Disziplin mehr gibt, die das journalistische Arbeiten ins Zentrum rückt und alles daransetzt, das handwerkliche und intellektuelle Rüstzeug besser zu machen, das die Absolventen mitnehmen in den Beruf. Er weiß auch, dass Karl Friedrich Reimers von allen möglichen Gründungsdekanen menschlich der angenehmste war. Man muss dazu nur die Horrorberichte aus anderen Fachbereichen lesen, die Peer Pasternack in seiner Dissertation über die ›demokratische Erneuerung‹ der Universitäten in Leipzig und Berlin gesammelt hat.62 Ich selbst kann auch einfach in das Original der Dissertation von Karl Jaeger schauen, eingereicht 1921 (kein Schreibfehler) in Leipzig und, so steht es in der Widmung, seit 2013 in meinem Regal in München – von Karl Friedrich Reimers »persönlich weitergegeben an den ersten, früh wohlbestallten Universitätslehrer aus dem Kreis der Leipziger Journalistik-Absolventen 1991ff.«63 Ohne Reimers würde ich dieses Buch nicht schreiben. Ich bin nicht nur ein loyaler Zeuge, sondern auch dankbar. Mit einem Abstand von 30 Jahren sehe ich trotzdem, dass am Ende Elisabeth Noelle-Neumann gewonnen hat, und ich sehe auch, wie hoch der Preis für diesen Sieg war.

      WIE EIN PROLETENKIND ZU EINEM ›HOFFNUNGDTRÄGER‹ DER DDR-JOURNALISTIK WURDE

      Nicht einmal ein Jahr später, zum 30. April 1991, hat Wulf Skaun an der Universität einen Aufhebungsvertrag unterschrieben. Es ist nicht so, dass er danach in ein Loch gefallen wäre. Es gab Arbeit bei der Leipziger Volkszeitung, zunächst in Leipzig und dann ab Februar 1992 in der Lokalredaktion Wurzen, fast zwei Jahrzehnte lang, bis zur Rente. Es ist auch nicht so, dass Wulf Skaun dort keinen Spaß gehabt hätte. Als wir vor ein paar Jahren über sein Leben gesprochen haben, hat er mir zwei Fotos aus dieser Zeit gegeben. Eins zeigt ihn in den frühen 1990er-Jahren, schlank und dunkelhaarig, auf dem Marktplatz in Wurzen, mit Block und Stift. Ein Interview mit zwei Passanten. Auf dem anderen Bild steht Skaun neben Radsportlegende Täve Schur, jetzt grauhaarig und etwas voller. Das ist das, was den Journalismus in einer kleinen Stadt ausmacht. Wulf Skaun wäre trotzdem lieber an der Universität geblieben. Viermal, sagt er, sei er von Wurzen aus noch in ein Seminar eingeladen worden, von Elisabeth Fiedler, eine Kollegin, die weitermachen durfte. »Für mich waren die Begegnungen mit Studenten noch mal Sternstunden«. Man muss gar nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu ahnen: Der Job in der Lokalredaktion hat die Wunde nicht schließen können, die der Auszug aus dem Hochhaus am Karl-Marx-Platz geschlagen hat.

      Wulfs Vater war ein »richtiger Prolet«, ein Arbeiterkind, »auf dem Weg zum Chemielaborant, als der Krieg kam«, der ihm ein Bein nahm und mehrere Finger. Die Odyssee endete 1947 in Hohen Viecheln, in einem 1000-Seelen-Nest am Schweriner See, ein paar Kilometer nördlich von Bad Kleinen. Dort hörte Vater Skaun vom Neulehrerprogramm. »Der Referent in Rostock sagte ihm, das würde sofort klappen, wenn er denn in die neue Partei eintrete. Er sei doch sicher auch gegen den Krieg, mit seinen zerschossenen Gliedern und als Arbeiterkind«. Wenn Wulf erzählt, sehe ich das Hohen Viecheln seiner Kindheit vor mir. Der Vater alles, was man in so einem Ort damals sein konnte. Parteisekretär, Chef der Nationalen Front, Schuldirektor. Die Mutter das Pendant beim anderen Geschlecht. Volkssolidarität, Demokratischer Frauenbund. »Alles traf sich bei uns zu Hause. Ich habe meinen Eltern später gesagt, die Welt ist ein Irrenhaus und bei euch ist die Zentrale«.

      Man darf so einen Ort wie das Hohen Viecheln aus den Kindertagen von Wulf Skaun nicht verwechseln mit den Nestern von heute, wo man zum Einkaufen ein Auto braucht und froh sein kann, wenn der Bus wenigstens einmal in der Stunde kommt. »Es gab zwei Kneipen, zwei Bäcker, zwei Schuster, Fleischer, Schmied, Stellmacher, Tischler und andere Handwerker. Ein Dorf mit allem Drum und Dran, mit einer eigenen Schule. Und der einzigen Kirche ringsum«. Die Einheimischen scheinen nichts dagegen gehabt zu haben, dass die Macht jetzt bei Familie Skaun lag, den Neuen aus der Gegend um Stettin. »Sie haben meinen Vater goutiert. Er war leutselig und hilfsbereit. Auch die, die die Roten gehasst haben, kamen zu uns und ließen sich von ihm beraten und Schreiben aufsetzen. Die Leute haben ihm vertraut«.

      Wie bei allem, was so weit zurückliegt, hat Wulf Skaun aus jener Zeit vor allem das parat, was wieder und wieder hochkommt bei den Treffen und Feiern, und er baut das, auch damit steht er nicht allein, so zusammen, dass man verstehen kann, wie aus dem Proletensohn vom Lande ein ›Hoffnungsträger‹ an der Leipziger Sektion Journalistik werden konnte, dort, wo die Oertels des 21. Jahrhunderts schlüpfen sollten. »Es wurde erzählt, dass ich im Kindergarten auf ein Stühlchen gestiegen sei und gerufen hätte: Genossen, seid ihr für den Frieden? Mit drei Jahren. Mit sechs soll ich mit einem blauen Fahnenfetzen durchs Dorf gezogen sein, etliche Kinder hinter mir, und ›Bau auf, bau auf‹ gesungen haben«. Eine ›Kinderpersönlichkeit‹, wird der kleine Bruder, dreieinhalb Jahre jünger, viel später sagen. Wie seine Eltern war Wulf alles an der Schule in Hohen Viecheln. Vorsitzender des Freundschaftsrats (das heißt: oberster Pionier), Verwalter der Bibliothek. »Ich war Rezitator, habe im Chor gesungen und hatte die meisten Zeilen, wenn wir Theater gespielt haben. Das wurde ausgezählt. Nach den Schulstunden war ich Direktor im Kinderzirkus Bums und Hauptmann der Pionierfeuerwehr. Ohne mich ging keine Tür zu«.

      Wulf Skaun ist dann auch auf der Oberschule in Wismar der Jahrgangsbeste, nachdem er erst etwas fremdelt mit dem weiten Weg und der großen Stadt. Er schreibt »ganze Seiten voll« in der Kreiszeitung, macht die Öffentlichkeitsarbeit für das Jugendklubhaus und rezensiert Herrenpartie, einen Film von Wolfgang Staudte, der eine Linie zieht von den Naziverbrechen in Jugoslawien bis in die westdeutsche Gegenwart. Journalismus, na klar, auch dann noch, als der Schuldirektor ihm vorschlägt, Diplomat zu werden. »Ich habe mich nicht beirren lassen. In Deutsch war ich gut. Aufsätze. Die wurden sogar vorgelesen. Ich wollte Journalist werden«.

      Auf dem Weg zum Studium nach Leipzig liegen ein kleiner und ein großer Brocken, die beide mit den Zeitläuften zu tun haben und mit der Position, die Familie Skaun im Kreis Wismar hat oder in der DDR, ganz wie man will. Erst eine Schriftsetzerlehre, der kleine Brocken, viel kleiner als der Tagebau, in den Sigrid Hoyer Ende der 1950er-Jahre geschickt wurde. Man schreibt jetzt die frühen 1960er, und im Norden der Republik ist noch nicht angekommen, dass der Bitterfelder Weg bald auch offiziell zur Sackgasse erklärt wird. Die Lehrer in Wismar jedenfalls raten ihrem besten Schüler, den Beruf des Journalisten »von der Pike auf« zu lernen. Heute kann man darüber lästern und über verlorene Jahre klagen, erst recht, wenn man die Brille der CV-Optimierer aufsetzt, die jeden Schritt ins Leben planen und immer ganz genau wissen wollen, was das alles jetzt für die Karriere bringt. Der Schriftsetzerlehrling Wulf Skaun redet in der Druckerei »viel