Die Schatzsucher aus der Gustergasse. Eva Rechlin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Rechlin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711754429
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      Sie sann eine Weile vor sich hin. Thees biß vorsichtig in das Brötchen, doch die Blaubeermarmelade quoll an allen Seiten heraus.

      »Krieg' ich auch noch den Groschen?« fragte er schließlich.

      »O ja! Beinahe hätte ich es vergessen. Hier — und denke von nun an immer an das Brötchen, das hier jeden Tag auf dich wartet …«

      »Wenn du auch daran denkst —«, erwiderte er, schon an der Tür.

      Das letzte, was er an diesem Tage von Gabriella sah, war ein beteuerndes Kopfnicken.

      Dann stürmte er hinaus auf die Gasse und begab sich auf die Suche nach Schöner Ak-ak.

      Drittes Kapitel

      Schöner Ak-ak stand gerade vor einer fünfstockigen Mietskaserne, als Thees ihn endlich fand. Er hatte ihn lange gesucht, in allen Straßen. Der halbe Tag war darüber vergangen. Nun hing schon der graublaue Spätnachmittag über der Stadt, und das Laub im Rinnstein wurde von der abendlichen Kälte wieder steif und zerbrechlich.

      Schöner Ak-ak hatte angeschwollene, bläulich verfrorene Hände. Er besaß nicht einmal Handschuhe. Uber die Schulter hatte er einen Sack geworfen, der voller Lumpen war.

      »Was ist?« fragte er, als Thees vor ihm stand.

      »In der Brieftasche waren tausend Mark!«

      Schöner Ak-ak ließ vor Verwunderung den Lumpensack fallen. Dann stellte er sich breitbeinig hin und stemmte die Fäuste in die Seiten.

      »Tausend Mark, Junge! Ich schwöre dir, daß ich noch niemals in meinem Leben tausend Mark auf einem Haufen gesehen habe!«

      »Sie gehörten einem Generaldirektor«, fuhr Thees fort. »Und heute soll es in der Zeitung stehen, daß sie es abgegeben hat. Und dann bekommt sie noch einen Finderlohn dafür — ein Schmuckstück oder eine Torte!«

      »Junge, Junge! Für tausend Mark hätte sie sich hundert Torten kaufen können.«

      »Aber sie wäre dann nicht anständig gewesen«, meinte Thees.

      Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zur Gustergasse. Schöner Ak-ak sprach die ganze Zeit von den tausend Mark und was man damit alles hätte anfangen können.

      »Du würdest ein ganz anderer Mensch werden«, sagte er und schob Thees vor ein dunkles Schaufenster. Thees sah sich darin wie in einem schlechten Spiegel: auf strubbeligen, viel zu langen Haaren saß die rote Pudelmütze, und der Wind fuhr durch mindestens zehn Löcher in sie hinein. Die Jacke war wenigstens geflickt, aber nicht gerade schön. Das lag daran, daß die Großmutter von Thees kurzsichtig war und keine Brille besaß. Und die Hosen, die Strümpfe und Schuhe? Thees schämte sich vor seinem eigenen Spiegelbild und trat zurück. Sein Bild löste sich in Dunkelheit auf.

      »Und du?« sagte er und musterte Schöner Ak-ak zum erstenmal in seinem Leben genau. Das war gewiß kein Freund, mit dem man sich großtun konnte. Schöner Ak-ak sah ziemlich übel aus, nicht besser als die Lumpen in seinem Sack. Ein ängstliches Gemüt konnte ihn für einen heruntergekommenen Wegelagerer oder Taschendieb oder sonst was Kriminelles halten. Dabei hatte er mit solchen Leuten gar nichts zu tun. Er war nur arm. Das war alles. Und die Armut wucherte vor allem rings um seinen Körper. Alles was er trug, stammte aus seinem Lumpensack. Hinzu kam, daß er sich nur einmal in der Woche rasierte, und zwar an jedem Donnerstag. Mittwochs sah sein Kopf deshalb immer wie ein borstiger Straßenbesen aus. Aber das machte Schöner Ak-ak nichts aus. Er war es seit mindestens fünfzig Jahren so gewohnt. —

      Als Thees »und du?« sagte, blickte Schöner Ak-ak bekümmert an sich nieder. Sein Blick blieb an seinen Schuhen hängen, die so aussahen, als wäre er mit ihnen durch ein Schlammbad gewatet.

      »Ich weiß …«, sagte er. Er sagte es so, als hätte er früher einmal bessere Zeiten gekannt. »Ich weiß, Thees. Aber wenn wir tausend Mark hätten, dann — Thees! Wir müßten tausend Mark haben!«

      »Ja, aber woher?«

      »Wir müssen auch mal eine Brieftasche mit tausend Mark finden.«

      »Ach, die findet man doch nicht so.«

      »Aber wenn man danach sucht? — Thees — meine Großmutter war viel älter als deine, und die hat immer gesagt: ‚Junge', hat sie immer gesagt, ‚ich kann dir schwören, daß man das Glück findet, wenn man es nur finden will.' — Weißt du, was das heißt, Thees? Das heißt, daß man das Glück findet, wenn man es sucht. Und weißt du, was das heißt, Thees?«

      »Nein.«

      »Das heißt, daß wir uns auf die Suche nach einer Brieftasche machen werden.«

      »Wo denn?«

      »Wir durchsuchen die ganze Stadt, Thees.«

      »Gut, und wann?«

      »Morgen, Junge. Man muß fix sein, wenn man das Glück suchen und halten will.«

      »Und wenn wir eine finden?« fragte Thees.

      »Wenn wir eine finden, haben wir tausend Mark. Junge: ich kann dir schwören, das soll morgen der schönste Tag meines Lebens werden!«

      Schöner Ak-ak schulterte seinen Lumpensack und setzte sich langsam in Bewegung. Thees blieb an seiner Seite. Sie schlugen die Richtung zur Gustergasse ein.

      »Wann fangen wir denn an?« erkundigte sich Thees.

      »Noch vor Sonnenaufgang, Junge. Wenn alle Leute schlafen. Es kann doch sein, daß einer, der spät vom Tanzen gekommen ist und womöglich einen Schwips hatte, seine Brieftasche verlor, verstehst du? Es darf jedenfalls noch keiner auf der Straße gewesen sein. Wir müssen die ersten sein. Und nachher, wenn es hell geworden ist, gehen wir in die großen Geschäftsstraßen und auf die Plätze und danach, wenn es wieder dunkel wird, in die Parks und die Vorstädte. O Thees, ich kann dir schwören, daß es der schönste Tag unseres Lebens wird!«

      »Und was machen wir mit dem Geld?«

      »Das teilen wir.«

      »Und dann?«

      »Kaufen wir ein.«

      »Was denn?«

      »Das weißt du nicht? Junge, ich hätte dich für gescheiter gehalten. Du weißt nicht, was du für fünfhundert Mark kaufen sollst?«

      »Ich hab' doch noch nie was für fünfhundert Mark gekauft!« rief Thees verzweifelt. »Weißt du denn, was man mit soviel Geld anfangen kann?«

      »Ich?« Schöner Ak-ak ließ seine Nase ein wenig in den Himmel wachsen. »Ich?« fragte er noch einmal. »Ich kaufe mir zehn Pfund Margarine und zehn Brote, damit es gleich bis Weihnachten reicht. Und dann eine Flasche Feuerwasser. — Hast du schon mal Feuerwasser probiert? — Und Tabak natürlich …«

      »Ich denke, Tabak ist nicht gesund«, sagte Thees.

      Schöner Ak-ak legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte bedeutungsvoll zu ihm nieder.

      »Hör mal zu, mein Junge. Ich kann dir schwören, daß kein Mensch mit viel Geld gesund bleiben kann. Darauf kommt es dann auch gar nicht mehr an. Wenn man krank wird, hat man ja das Geld, um sich wieder gesund zu machen. Und deshalb werde ich mir von meinen fünfhundert Mark auch noch eine dicke Brasilzigarre kaufen.«

      »Und ich mir Schokolade«, sagte Thees und warf seinem Freund einen neugierigen Blick zu. Der schien gar nichts dabei zu finden. Er nickte, als sei der Kauf von Schokolade das Selbstverständlichste von der Welt, als sei es niemals eine verabscheuungswürdige Sünde.

      »Und was noch?« fragte er sogar begierig.

      Thees warf einen raschen Blick in das Schaufenster, an dem sie in diesem Augenblick vorbeikamen. Er sah lauter Würste — links eine stattliche Anzahl praller, hellgrauer Leberwürste, und rechts alles mögliche: Mett- und Teewürste, Braunschweiger und Jagdwurst, gekochten Schinken und Salami und eine ganze Kette von Knackwürsten.

      »Das