Im Verein profitiert Jörg schnell von einem guten Trainer, Horst Heckwolf, der noch heute Verbandstrainer in Hessen ist. Roßkopf erinnert sich nach wie vor gern an die Zeit seiner Anfänge. Heckwolf macht ein tolles Training, die Einheiten sind vielfältig und motivieren die Nachwuchsspieler, besonders Jörg. Schnell stellen sich erste Erfolge ein. Dietmar Günther, der mit Jörg seit dem Kindergarten befreundet und damit einiger der wenigen ist, die ihn schon vor Beginn seiner Leidenschaft Tischtennis kannten, erinnert sich, wie früh der spätere Europameister allen anderen überlegen war. Wenn es darum ging, in einer Übung Schläge zu trainieren, macht Jörg spätestens beim zehnten Ball schon etwas anderes, etwas Überraschendes. Er probiert Bälle, die in den Augen der anderen eigentlich gar nicht gehen. An seinen Spielwitz kommt keiner ansatzweise heran.
1981 wird Jörg Roßkopf deutscher Schülermeister im Doppel, der Startschuss zu einer ganzen Reihe von Siegen und guten Platzierungen in den Nachwuchswettbewerben des DTTB. So zeigten auch die Ergebnisse, dass aus dem Jungen etwas werden könnte.
Der hessische Verband wird schnell aufmerksam und lädt Jörg ins Landesleistungszentrum nach Frankfurt ein, wo er zuerst zweimal und später sogar viermal die Woche trainiert. Schon seit 1979 hat Jörg einen Sponsor – damals ist er gerade zehn Jahre alt. Die Firma JOOLA zeigt Interesse, und die Eltern unterschreiben einen Ausrüstervertrag für ihren Sohn. Seitdem ist Roßkopf eng mit dem Unternehmen aus Siebeldingen und dessen Geschäftsführer Michael Bachtler, bis heute sein Manager, verbunden.
In Hessen endet Anfang der achtziger Jahre mit den Abstiegen von der FTG Frankfurt (schon 1977), Eintracht Frankfurt und Mörfelden, immerhin Gründungsmitglied der Bundesliga und mehrfacher Deutscher Meister, eine kleine Ära. Der Hessische Tischtennisverband ruft in Kooperation mit der FTG Frankfurt ein Projekt ins Leben, um in absehbarer Zeit wieder eine Mannschaft des Landesverbandes ins Oberhaus zu führen. Zu diesem Zweck sollen die besten Nachwuchsspieler des Landes zusammengeholt werden und bei der FTG Frankfurt in der zweiten Liga antreten. Als verantwortlicher Spielertrainer wird Helmut Hampl, selbst lange in der ersten Bundesliga aktiv, ernannt. Er ist bekannt für sein gutes Auge und sein »Händchen« im Umgang mit jungen Spielern. Auf der Liste der größten Talente steht neben Namen wie Hans-Jürgen Fischer und Thomas Roßkopf auch der des jungen Jörg Roßkopf von der DJK Blau-Weiß Münster.
1984 wechselt Jörg nach Frankfurt. Bei der DJK war er zuvor in der zweiten Herrenmannschaft aufgestellt – in der Bezirksliga. Jetzt spielt er in der zweithöchsten deutschen Klasse. Ein gewaltiger und gewagter Sprung. Roßkopf hat Glück, denn er rutscht spät in die neue Mannschaft, weil ein anderer Spieler, der bereits zugesagt hatte, kurzfristig abgesprungen ist. Doch Hampl glaubt schon früh an den Jungen aus Münster. Er erinnert sich, dass Roßkopf bereits als Schüler ein harter Arbeiter und immer sehr konzentriert im Training war. »Er hat nie irgendeinen Blödsinn gemacht«, sagt er, »sondern war immer sehr ehrgeizig.« Selten hat er einen Elf- oder Zwölfjährigen gesehen, der bereits solch eine Fokussierung auf seinen Sport entwickelt hat. Der junge Roßkopf weiß, was er will und was er tun muss, um seine Ziele zu erreichen: hart an sich arbeiten. Zusammen mit Hampl wagt er den Sprung ins kalte Wasser der zweiten Liga, denn er vertraut dem Trainer und spürt, dass dieser ihn schützen wird, sollte es einmal Rückschläge geben.
Doch neben Tischtennis hat ein Schüler noch andere Verpflichtungen. Jeder hat das mitgemacht, diese Konflikte um das geliebte Hobby, das man am liebsten den ganzen Tag ausüben würde. Die meisten Jungs treiben sich auf den Fußballplätzen rum, viele Mädchen gehen reiten, und heute – folgt man den Klischees – sitzen alle vor dem Computer und verirren sich zwischen Facebook und SchülerVZ. Daneben gibt es das große Übel Schule samt Lehrern sowie die Eltern, die doch so gern gute Noten auf den Zeugnissen sehen möchten. Auch Jörg muss Schule und Hobby unter einen Hut bringen, nur dass Tischtennis bei ihm schnell über eine normale Freizeitbeschäftigung hinausgeht. Er ist von Anfang an auf Tischtennis fixiert, andere Hobbys interessieren ihn nicht wirklich. Schon früh ist er auch außerhalb Deutschlands unterwegs. Sein Freund Dietmar Günther erinnert sich, dass Roßkopf irgendwann in der Schule fehlte, weil er in China einen Lehrgang besuchte. Viele seiner Mitschüler haben wahrscheinlich noch Mühe, die Hauptstadt und den Kontinent zu nennen, der kleine Jörg ist schon dagewesen. Oft kommt er erst um zehn Uhr abends nach Hause, muss ab und zu noch seine Hausaufgaben erledigen – das stresst natürlich. In seinem Kopf formt sich das Bild, eines Tages an einer Platte zu stehen, ein wichtiges Spiel zu bestreiten, drumherum die Zuschauer, die mitfiebern. Viele Jugendliche haben solche Träume. Der eine will Rockstar werden, der andere sich selbst im Kino sehen, der nächste möchte Bücher schreiben. Jörg will Tischtennis spielen. Nicht viele verwirklichen ihre Träume.
»Der Jörg hat eigentlich gar keine richtige Jugend wie wir anderen gehabt«, erzählt Dietmar Günther. »Wenn wir mit Freunden auf dem Bolzplatz unterwegs waren, ist der Rossi zum Kadertraining nach Frankfurt gefahren.« Hat Jörg mal Zeit, ist er auch beim Fußball dabei, doch er ist ein bisschen weich, so Günther, und hat schon früh Angst, sich zu verletzten. Das wäre natürlich eine Katastrophe, denn ein paar Tage nicht an die Platte gehen zu können, ist für Jörg eine Horrorvision. Stundenlang hält er sich mit seinen Freunden und Kollegen in der Trainingshalle auf. Bald wird er von einigen mit dem Hausmeister verglichen, denn oft schließt er die Halle mittags auf und abends wieder ab. Er geht voll in der Tischtennis-Gemeinschaft auf, interessiert sich nur wenig für andere Dinge. Natürlich geht er auch mal auf eine Party, schaut einem Mädchen hinterher, doch seine Aufmerksamkeit gilt sonst nur dem Sport. Diese Ernsthaftigkeit beruhigt auch seine Eltern und schafft Vertrauen. Für seine Freunde ist bald klar, dass es ihr Kumpel schaffen wird, ganz nach oben zu kommen.
Trotz des konstanten Aufstiegs des Nachwuchsspielers Roßkopf erlebt er die ganz alltäglichen Aufs und Abs eines Jugendlichen. Jörg holt seinen Freund Dietmar jeden Morgen zuhause ab, um mit ihm zusammen zur Schule zu radeln. Dietmar Günther erinnert sich lebhaft an das gelbe Bonanza-Fahrrad, mit dem Jörg in seiner Jugend immer unterwegs war. »Das war sein Markenzeichen«, sagt Dietmar Günther. Eines Morgens kommt er, wie immer pünktlich, vorgefahren, stellt sein Rad ab, klingelt und wartet, bis geöffnet wird. Dietmar macht die Tür auf und fällt beinahe in Ohnmacht. Jörg steht mit Dauerwellen vor ihm. »Der hat immer glatte Haare gehabt«, erzählt Günther gutgelaunt. »Und dann hat er Dauerwellen. Mein Vater wollte die Tür am liebsten sofort wieder zuma chen.« Auch in der Schule trifft Roßkopfs neue Frisur überraschenderweise auf keine allzu positive Resonanz, sodass am Nachmittag ein erneuter Gang zum Friseur erfolgt. Auch Jörg Roßkopf ist eben nur ein Teenager mit all seinen Irrungen und Wirrungen. Wie sagt man gern beim Anblick eines Fotos aus der eigenen Jugendzeit: Ich war jung und brauchte das Geld.
Bei der FTG Frankfurt wird der nun 15-jährige Jörg in der ersten Saison an Position sechs im hinteren Paarkreuz aufgestellt. In der Mannschaft spielt auch sein zwei Jahre älterer Bruder Thomas zusammen mit einer ganzen Reihe hoffnungsvoller deutscher Talente. Jörg startet gut und gewinnt gleich seine ersten beiden Spiele – 20 Mark pro Sieg macht 40 Mark Prämie. Für einen Jungen in Roßkopfs Alter in den achtziger Jahren keine kleine Summe. Doch schon damals denkt er weiter. Mit den Erfolgen wächst auch der Ehrgeiz. 1983 hat er die deutschen Schülermeisterschaften gegen Steffen Fetzner gewonnen. Die beiden kennen sich bereits seit einem Lehrgang der Schüler-Nationalmannschaft in Osnabrück. Ein Jahr später holen sie sich zusammen in Linz Silber im Doppel bei den Jugend-Europameisterschaften, geschlagen nur von zwei jungen Jugoslawen namens Primorac und Lupulesku. Früh trifft er auf Kontrahenten, von denen ihn einige über 20 Jahre seiner Profikarriere begleiten werden. Tatsächlich sagt Roßkopf heute, dass er schon damals an eine internationale Karriere gedacht hat.
Im Dezember 1984 macht er sein erstes Länderspiel für Deutschland gegen Jugoslawien – Folge einer radikalen Verjüngungskur, die Bundestrainer Charles Roesch und Eva Jeler in die Wege geleitet haben und der einige prominente Spieler wie Peter Stellwag zum Opfer fallen. Doch vor allem ist es eine Anerkennung von Roßkopfs Einstellung und Leistung.