Incels. Veronika Kracher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veronika Kracher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783955756093
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Kommiliton*innen des Virginia Polytechnic Institute erschoss. Er hatte zuvor mehrere Kommilitoninnen belästigt, zwei von ihnen meldeten Cho bei der Polizei. In einem Dokument, das Cho hinterließ, geißelte er Dekadenz und Hedonismus und artikulierte seine Bewunderung für die Attentäter von Columbine, die im April 1999 bewaffnet in ihre High School eindrangen und 15 Menschen ermordeten. Erst Jahre später wurde thematisiert, dass sie faschistischem und rassistischem Gedankengut anhingen.

      2009 ermordete George Sodini, der in Incel-Kreisen als Vorläufer von Elliot Rodger verehrt wird, drei Frauen in einem Yoga-Studio in Pittsburgh. Einige Monate zuvor hatte er sich auf seinem Blog darüber beklagt, dass Frauen ihn nicht begehrenswert finden würden. Auch Tim Kretschmer, der Amokläufer von Winnenden, attackierte gezielt Schülerinnen und weibliche Lehrkräfte.

      Im Mai 2014 erlangten Incels durch den in der Community als »Heiligen« und »Helden« verehrten Elliot Rodger größere Bekanntheit: das Ausleben seiner Rachefantasien kostete sechs Menschen das Leben, er verletzte 14 weitere. Ich werde Rodger noch einer ausführlichen Analyse unterziehen.

      Chris Harper-Mercer ermordete 2015 neun Menschen in einer Schießerei an einem Community College in Oregon und publizierte ein Manifest, in dem er darüber klagte, keine Freundin zu haben, und in dem er explizit auf Rodger Bezug nahm, den er geradezu vergötterte.22

      Im Dezember 2017 erschoss William Atchison zwei Schüler*innen seiner ehemaligen High School in New Mexico. Sein Online-Username lautete »Elliot Rodger«, Atchison bezeichnete sich selbst als »Supreme Gentleman«.23

      Im Februar 2018 ermordete Nikolas Cruz 17 Mitschüler*innen seiner High School in Parkland, Florida, nachdem seine Ex-Freundin begann, mit einem anderen Jungen auszugehen, außerdem vertrat er rechtsextreme Ansichten. Auf YouTube schrieb er: »Elliot Rodger wird nicht vergessen werden«.24

      Im April 2018 raste der Kanadier Alek Minassian mit einem Auto in eine Menschenmenge und tötete 10 Menschen; zuvor postete er auf Facebook: »The Incel Rebellion has begun. We will overthrow all the Chads and Stacys. All hail the Supreme Gentleman Elliot Rodger.«25

      Neun Monate später drang Scott P. Beierle in ein Yoga-Studio in Florida ein, erschoss zwei Frauen und anschließend sich selbst; auch Beierle suchte regelmäßig misogyne Online-Foren auf und ließ seinem Frauenhass auf Social Media freien Lauf.

      Auch der Mörder der Influencerin Bianca Devins, der die junge Frau im Sommer 2019 aus Eifersucht und Anspruchsdenken ermordete und Bilder ihrer Leiche auf Instagram postete, verortete sich in Incel- und chan-Board-Kreisen.

      Der Neonazi, der an Jom Kippur 2019 versuchte, in die Synagoge von Halle einzudringen und – nachdem er daran scheiterte – Jana L. und Kevin S. erschoss, war zwar nicht explizit Incel, aber auch er verortete sich auf Imageboards wie 4chan, und die in dem Livestream immer wieder geäußerten Selbstgeißelungen lassen darauf schließen, dass er der Incel-Ideologie zumindest ideell nahe stand.

      Im Februar 2020 stach ein gerade erst 17 Jahre alter Incel auf die Sexarbeiterin Ashley Noelle Arzaga ein, die in einem erotischen Massagesalon in Toronto arbeitete. Arzaga erlag ihren Wunden, eine weitere Frau und ein Mann wurden verletzt.

      Im Mai 2020 plante ein junger Mann im US-Bundesstaat Virginia, eine Bombe in einem Einkaufszentrum zu legen, um sich an den »heißen Cheerleaderinnen« zu rächen, die ihm den Sex verweigert hätten. Das Attentat schlug fehl: die Bombe explodierte bei ihm zuhause, der Täter verstümmelte sich selbst die Hand.

      Incels stehen Attentaten, die nicht explizit aus ihrer Community stammen, auch selten ablehnend gegenüber: Schießereien wie jene in Las Vegas 2017, Poway 2018, El Paso 2019 oder Christchurch 2019 werden entweder glorifiziert – die Täter seien »Supreme Gentlemen« –, entschuldigt – die Täter konnten angesichts der männerfeindlichen, »verjudeten« und antirassistischen Gesellschaft gar nicht anders handeln – oder man bezieht die Attentate auf sich, um ein bisschen den eigenen Opferstatus zu perpetuieren – man sorgt sich, dass Medien und Behörden Attentäter mit der Incel-Community in Verbindung bringen, auf dass diese dann politisch verfolgt wird. Gedenken an die Opfer hingegen sucht man vergeblich.

      Wären Incels primär selbstzerstörerische Opfer einer auf Schönheit fixierten Gesellschaft, könnte man Mitleid mit ihnen aufbringen. Allerdings sind zahlreiche Incels entweder auf dem besten Weg, Soldaten in einem Krieg gegen Frauen zu werden, oder sie haben ihr Leben bereits diesem Krieg verschrieben. Insgesamt sind in den USA und Kanada über 50 Menschen durch Incel-Attentate ums Leben gekommen.26 Inzwischen werden Incels in Nordamerika als Gefahr für die innere Sicherheit anerkannt und dementsprechend behandelt. In Deutschland, einem Land, das erst 2017 sexuelle Belästigung als Straftat anerkannt hat und in dem Femizide immer noch als »Familiendrama« gelabelt werden, ist man davon leider noch weit entfernt. Daher ist es kein Wunder, dass der durchschnittliche Polizist keinen blassen Schimmer davon hat, was ein Imageboard ist – es sei denn, er zählt zu jenen rechtsradikalen Polizisten, die besagte Imageboards aufsuchen.

      Alana betreibt übrigens seit 2018 die Seite Love, not Anger, auf der sie ehemaligen Incels hilft, ihre toxische Weltsicht zu überwinden.

      Rote Pille, schwarze Pille: Ein Blick in den Online-Medizinschrank

      Auch wenn der Begriff »Incel« erst seit vergleichsweise kurzer Zeit mit misogynem Terror assoziiert wird und sich die Szene anfangs nicht durch Vernichtungswillen, Selbstinfantilisierung und Frauenhass auszeichnete, haben sich diese Momente durchgesetzt. Von Alanas ursprünglichem Selbsthilfeprojekt ist tragischerweise nichts übriggeblieben, der Begriff »Incel« wird für immer mit Männern wie Rodger verbunden werden. Auch wenn laut einer im März 2020 getätigten Umfrage auf dem Forum incels.co 96,2 Prozent der User der Ansicht sind, Medien würden Incels dämonisieren und unfair darstellen27, geben sie sich keinerlei Mühe, ihrer Selbstbezeichnung einer »Supportgruppe« gerecht zu werden. Von dem Selbstanspruch früher Incel-Gruppen, sich durch die eigene Sexlosigkeit nicht verbittern und frustrieren zu lassen, lässt sich in den aktuellen Foren kaum etwas finden. Für eine »Ehrenrettung« des Begriffs »Incel« ist es meines Erachtens zu spät; und es ist bezeichnend, dass Alana ihr aktuelles Projekt »Love, not anger« getauft und sich von dem Label »Involuntary Celibate« als Referenzpunkt verabschiedet hat.

      Wie bereits erklärt, basiert das Weltbild von Incels auf der sogenannten Blackpill-Ideologie, die auf der sogenannten Redpill aufgebaut ist. Der Begriff der Redpill stammt aus dem Film The Matrix, einem Film, der mit Lana und Lilly Wachowski übrigens von zwei trans Frauen gemacht wurde, und der inzwischen von Filmkritiker*innen als Allegorie auf eine Transition gelesen wird28 – was die antifeministischen und transfeindlichen Redpiller geflissentlich ignorieren. In Matrix wird dem Protagonisten Neo eine rote und eine blaue Pille angeboten; schluckt er die blaue, verbleibt er weiter in der Illusion der Matrix, schluckt er die rote, lüftet er den Schleier der Verblendung und erkennt die Welt, wie sie wirklich ist. Die Vertreter der Redpill betrachten sich selbst also als Erleuchtete, mit dem Fluch gesegnet, die Welt zu erkennen, wie sie in Wirklichkeit ist. Sie haben es geschafft, die Indoktrinierung durch »Fake News« und linksgrünversiffte Mainstream-Propaganda zu durchschauen.

      In ihren Augen ist die Welt eine von Kulturmarxismus und Political Correctness beherrschte Dystopie, in der Frauen Männer durch ihre Sexualität kontrollieren und mit feministischen Superwaffen wie »falschen Vergewaltigungsandrohungen« in Schach halten, und in der Männer so eingeschüchtert, verweichlicht und entmannt sind, dass sie nichts anderes tun, als jede erdenkliche Laune dieser kapriziösen Weiber zu erfüllen. Feminismus ist für Redpiller eine »sexuelle Strategie«, um Männer zu unterdrücken und zu kontrollieren. Frauen sind aus ihrer Perspektive von Grund auf verkommen, triebhaft, oberflächlich, hypersexuell, egoistisch, gleichzeitig dumm und manipulativ, und generell ganz schlechte Menschen. Diese Eigenschaften seien ihnen, so die immer biologistisch argumentierende Welterklärung, von Natur aus eingeschrieben und müssten durch das soziale Korrektiv des Patriarchats gebändigt werden. Kurz zusammengefasst erklärt sich das antifeministische, antisemitische und antikommunistische (drei Ausprägungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit,