„Und wann begann das mit der Aufregung der Vögel?“
„Es soll kurz nach Mitternacht begonnen haben. Durch einen seltenen Zufall verbrachte ich jene Nacht auf den dreizehnten zu Hause. Millionen von Vögeln fielen in die Großstadt ein, von der ich spreche. Bitte, frag nicht nach ihrem Namen. Ich weiß ihn absolut nicht mehr. Nach den Vögeln darfst du fragen, selbstverständlich. Alle Arten waren darunter, die es damals gab, große und kleine. Von Kondoren, Geiern, Habichten, Kormoranen herunter bis zu Schwalben, Meisen und Spatzen. Mehr Namen von Vögeln sind mir nicht mehr geläufig. Die flachen Dächer, Dachgärten, Schau- und Wohntürme, Balustraden, Antennen, Feinmetallgerüste zum Empfange kosmischer Wellen und Strahlen, die Anlagen der Fernsubstanzzerstörer, all das war schwarz, pechschwarz von großen und kleinen Vögeln, die dicht nebeneinander hockten und ein gewaltiges Klagegeschrei und Gezwitscher erhoben, das sich nicht beschreiben läßt. Es war ein einziger, scharfgezackter Wehelaut, der unter den tiefhängenden Wolken vibrierte . . .“
„Und das nennst du einen ordinären Alltag“, schüttelte ich den Kopf.
„Er war es“, nickte B.H., „ein ganz ordinärer Wochentag, ein Freitag, ein dreizehnter November wieder einmal. Die ersten Extrablätter berichteten die Sache mit den Vögeln bereits um zwei Uhr morgens ebenso wie die verschiedenen wellenversendenden Agenzien. Den Uranographen, den du vermutlich bald kennen lernen wirst, gab’s damals noch nicht. Wir durchliefen gerade eine stark rationalistische Epoche, und das Vertrauen in die Wissenschaft war unbedingter, als du es je erlebt hast, F.W. Die gelehrten Institute nahmen die Angelegenheit noch mitten in der Nacht in die Hand. Um vier Uhr früh war das Phänomen geprüft, analysiert und erklärt. Es hing zusammen mit irgendwelchen elektromagnetischen Unregelmäßigkeiten, die zum Entstehen ganzer Ketten von Kugelblitzen in den untern Schichten der Atmosphäre geführt hatten.“
„Immer weniger Alltag, mein Bester“, fiel ich ein und spürte genau, wie ich mit den Schultern zuckte, obwohl sie unsichtbar waren.
„Glaub mir, F.W., bis auf das Vogelgeschrei warʻs der banalste Freitag, den du dir denken kannst. Und wie lange braucht eine richtige Metropole, um über das extremste Geschrei zur Tagesordnung überzugehen? Zwei, drei Stunden. Um elf Uhr dreißig hatte sich die Welt bereits daran gewöhnt, und die Schlagzeilen der Mittagszeitungen beschäftigten sich wieder mit den Eheaffären eines weltberühmten Ventriloquisten . . .“
„Und um elf Uhr fünfundfünfzig?“ fragte ich.
„Da begann ich gerade mein Gesicht einzuseifen“, erwiderte B.H., voll Nachdenklichkeit. „Um diese Zeit erhob sich damals der arbeitende Kulturmensch. Dies ist nämlich eine meiner gesichertsten Erfahrungen im Laufe so mancher Wiedergeburten: Je fortgeschrittener die Menschheit, um so später steht sie auf.“
„Und um zwölf Uhr zwanzig?“ fragte ich hartnäckig weiter.
„Um zwölf Uhr vierundvierzig“, sagte er und machte eine längere Pause, ehe er fortfuhr, „um zwölf Uhr vierundvierzig verließ ich meinen komfortablen Lebensraum, um einer Einladung zum Frühstück Folge zu leisten. Es ist übrigens durchaus unwahr, daß wir damals, wie ein geschichtsschreibender Witzbold es formulierte, in überaus praktischen ,Wohnsärgenʻ lebten, die sich nach unserm Hinschied mechanisch verkapselten und selbsttätig in die Erde versenkten. All das ist Schwindel. Unsere Lebensräume waren wohl recht klein, aber angenehm wie ein elastischer Handschuh. Längst waren die Zeiten vorüber, wo der Mensch um seinen Platz an der Sonne, und noch mehr um seinen Platz im Schatten zu kämpfen hatte . . .“
„Jetzt ist es mindestens zwölf Uhr fünfzig Minuten, B.H.“, drängte ich ungeduldig, denn ich fühlte, wie er mir auf Seitenwegen entwischen wollte. „Du bist aus deinem Lebensraum, aus deinem Haus getreten. Ich fürchte, du wirst zu spät zum Lunch kommen . . .“
„Ich werde überhaupt nicht zu diesem Lunch kommen, F.W.“, lächelte er träumerisch. „Ich werde gerade noch unseren städtischen Park in der nächsten Nähe erreichen. Du weißt, daß ich immer die Fortbewegung per pedes apostolorum geschätzt habe. Meine Absicht war’s auch diesmal, zu den Freunden, die mich eingeladen hatten, ganz gemächlich hinzubummeln. Ich kam freilich nicht weit . . .“
„Weil inzwischen das Ereignis eintrat?“ trieb ich ihn vorwärts. Er sah sonderbar verstört durch mich hindurch. Die Erinnerung schien ihn noch immer zu verwirren.
„Wie kann man“, fragte er ins Leere, das ich war, „von etwas, was keine oder fast keine Zeit in Anspruch nimmt, leichtfertig sagen, es trete ein?“
„Fast keine Zeit ist immerhin so gut wie jede andere Zeit“, erklärte ich. „Das Ereignis währte demnach den Bruchteil einer Sekunde, B.H.? Vielleicht kannst du diesen Bruchteil in Zahlen ausdrücken . . .“
„Und ob ich’s kann“, entgegnete er und schrieb in die Luft sehr geschwind eine beträchtliche Reihe von Nullen, an deren Ende er energisch einen Einser setzte.
„Ich verstehe nichts davon“, erwog ich, „aber ich denke, ein Bruchteil von solcher Winzigkeit kann ja gar nicht sinnlich wahrgenommen werden.“
„Gar nicht sinnlich wahrgenommen werden“, wiederholte er beinahe höhnisch. „Ich sage dir, wir alle glaubten, das Ereignis habe Ewigkeiten gedauert. Während es stattfand, waren wir wie aus der Zeit geworfen. Hinter der schweren, dicken Wolkenwand des dreizehnten Novembers flammte plötzlich vom Aufgang zum Niedergang das Empyreum auf, der Feuerhimmel, von dem die Menschen einst geglaubt hatten, daß er hinter allen andern Himmeln liege. Wie soll ich dir das Ungeheuerliche schildern, es gab nichts mehr, keine Stadt, keine Häuser, keinen Park, keine Allee, keinen Baum, kein Ich, kein Du, es gab nur Licht, ein Licht aber, gegen das alles bekannte Licht die schmutzigste Dämmerung war . . .“
„Ich habe immer gefürchtet“, murmelte ich erschüttert, „die Sonne könne einmal eine Herzattacke oder einen Wahnsinnsanfall bekommen . . .“
„Nenn es, wie du willst“, sagte er. „An jenem Freitag, dem dreizehnten November, drohte die Sonne mit sich selbst durchzugehn. Man kennt das ja von anderen Lichtgestirnen, die urplötzlich explodieren, das heißt zur millionenfachen Größe ihrer selbst anwachsen. Ich weiß nicht, ob wir in unserer gemeinsamen Gymnasialzeit schon etwas von der Novabildung gelernt haben, oder ob das erst eine viel spätere Entdeckung war. Das Große aber an unserer Sonne ist, daß sie zugleich, als sie mit sich durchging, sich selbst beherrschte und sich selbst in der Gewalt behielt. So kam es nur zu dem großen Ereignis der ,Transparenzʻ und nicht zur Vernichtung. Das Ereignis überschritt die Grenze des Geistigen kaum. Und doch, wir haben den Jüngsten Tag erlebt . . .“
„Wie furchtbar muß es gewesen sein“, hörte ich mich murmeln, „wie furchtbar.“
„Furchtbar!“ rief er aus. „Es war herrlich, unausdrückbar herrlich! Wäre die Kürze des Augenblicks nur um eine fehlende Null länger gewesen, alles wäre vorbei für immer. Hätte irgendein Wesen auf Erden während der ,Transparenzʻ ein brennendes Streichholz in der Hand gehalten, die Atmosphäre hätte sich entzündet und wäre wie eine Flammenfahne in den Raum verpufft. Warum? Weil der Sauerstoff der Luft vor und nach der Transparenz einige Sekunden lang ums Dreifache vermehrt war. Aber es gab eben keine Streichhölzchen mehr auf Erden, kein offenes Feuer und nicht einmal Lavaströme. Da sind heute noch Gelehrte, die behaupten, die Vermehrung des Sauerstoffes in der Atmosphäre sei die Ursache der göttlichen Begeisterung, der unaussprechlichen Ekstase gewesen, die mich und alles andere, das lebte, in jenem Bruchteil von Zeit erfüllte . . .“
„Wie soll ich mir vorstellen“, wunderte ich mich, „daß in einem solchen Bruchteil von Zeit sich überhaupt eine Empfindung entwickeln kann, B.H.?“
„Du kannst dir diesen Bruchteil ähnlich vorstellen, F.W., wie etwa die Steigerung in einem niemals erdachten Symphoniesatz. Ach Gott, das alles ist ein Blödsinn,