Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726482362
Скачать книгу

      Unbeirrt von meinem Widerstand, setzte er seine Belehrung fort, mit dem Fingernagel den innern Kreis auf dem Zifferblatt des Instrumentes nachziehend:

      „Siehst du, hier? Viel wichtiger als der mathematischastronomische ist der mentale Zirkel. Verzeih, den Begriff ,mental’ könntest du vielleicht mißverstehen. Es wird damit nicht eine bloße Tätigkeit des Intellekts gemeint; als mental bezeichnen wir jede Seelenregung, jede Emotion, die vom Lichte des Bewußtseins reingewaschen und somit vergeistigt wird . . . Warum bist du unaufmerksam? Strengt es dich an, zuzuhören . . .? Hier, lies mit mir die Termini über den Löchlein, in die ich jetzt die hellen grünen Kügelchen einrollen lasse: ,Willensrichtungʻ ― ,Veränderungsdrangʻ ― ,Zielsicherheitʻ ― ,Mutmaßliche Dauer der Ungeduldʻ — ,Mutmaßliche Dauer der Geduldʻ.“

      „Halt, B.H.“, unterbrach ich ihn, ernstlich verwirrt. „Ich bin eingeladen oder ,zitiertʻ, was viel ärger ist, bei wildfremden Leuten. Ich weiß nicht, wie und wer diese Leute sind, wie sie heißen, und wie sie leben. Ich kenne nicht ihre Sprache, ihre Sitten und Gebräuche, ihr Zeitalter, das von dem meinigen, den Anfängen der Menschheit, vielleicht hundertzwölftausenddreihundertfünfundzwanzig Jahre getrennt ist. Du hast dich durch mehrere Wiedergeburten durchgeschlagen und davon ein Savoir Vivre behalten, mit dem du in jeder Gesellschaft weiterkommst. Weißt du denn, wie mir zumute ist, einem von Natur schüchternen und verlegenen Menschen, der schon im Jahre 1930 nur mit Schweißtropfen auf der Stirn ein fremdes Wohnzimmer betrat? Wie soll ich mich benehmen? Wie soll ich mich verhalten? Der einzige Vorteil, der meinen Nerven zugute kommt, ist der, daß ich unsichtbar bin. Du kannst mich nicht so mir nichts dir nichts der Friktion einer solchen Begegnung aussetzen, nach einer vollen Ewigkeit der Entwöhnung . . .“

      „Da habe du keine Sorge“, lächelte er gütig. „Deine Schüchternheit, deine Verlegenheit entstammt ja nur einer menschenfresserischen Zivilisation, einer auf götzendienerischen Tabus errichteten Gesellschaft, wo oben und unten, groß und klein, reich und arm, schön und häßlich durch tödliche Abgründe voneinander getrennt lebten! Ich verspreche dir, du wirst den freundlichsten, den hübschesten, den taktvollsten Leuten bei der Hochzeitsgesellschaft begegnen, in wenigen Minuten . . . Siehst du, es fehlt nur mehr das letzte hellgrüne Kügelchen für das Löchlein, über welchem die Worte stehn: ,Scharf eingestellter Wunsch.ʻ “

      „Hab doch ein Einsehn, B.H.“, bat ich, „ehe es zu spät ist. Du kannst mich doch nicht ohne alle Informationen und Ratschläge hineinschneien lassen in diese Welt! Vielleicht wäre es am klügsten, das Ganze jetzt noch rückgängig zu machen. Bitte, bitte, hilf mir! Vielleicht kannst du mich verschwinden lassen. Du weißt, ich bin stolz. Ich möchte mich nicht gern blamieren.“

      So peinlich dieses Bekenntnis für einen Reiseschriftsteller auch sein mag, in diesem Augenblick war meine Eitelkeit, mein Hochmut und meine Angst größer als meine Neugier und die gebotene journalistische Abenteuerlust. B.H. aber kümmerte sich nicht um mich, sondern hatte jetzt einige Mühe, das letzte Kügelchen ins letzte Löchlein zu bringen und damit das Ziel auf uns zu bewegen.

      „Sei nur nicht nervös“, sagte er, ohne aufzuschauen, „du wirst gar nichts spüren . . . Heute abend wirst du noch dein eigenes Instrument besitzen.“

      Und er faßte mich mit seiner freien Hand unter, so daß wir eine Einheit bildeten.

      Als das Kügelchen endlich in das Löchlein des „Scharf eingestellten Wunsches“ sprang, gab es einen kleinen, angenehmen Knax, nicht ein Zehntel so deutlich wie der leichte elektrische Schlag, den man an klaren Wintertagen in New York erhält, wenn einem jemand die Hand reicht. Ich erwartete nun, die Ferne werde lautlos aber rapid unserm festen Standort entgegenstürzen. Nichts dergleichen geschah. Man mußte schon einen scharfen Beobachtungssinn besitzen, um unmittelbar zu erkennen, daß sich Zahl, Lage und Anordnung der großen Baumhaufen ringsum auf der endlos öden Ebene ohne Übergang verändert hatten. Einer dieser dichten Baumbestände lag nun keine fünfzehn Schritte von uns entfernt. Blaß leuchteten die wächsernen Blüten mit ihren vagen Farbandeutungen von den regungslosen Zweigen im schwarzen, ledernen Laub. Wir waren am Ziel, oder genauer, das Ziel war an uns. Wir begannen, unsre Beine zu bewegen, B.H. seine sichtbaren, ich meine unsichtbaren. Es war ein merkwürdiges Vergnügen, auf diesem grauhaarigen Rasenteppich auszuschreiten, mit dem der ganze gealterte Erdball belegt zu sein schien.

      Plötzlich konnte ich mich nicht länger beherrschen, blieb stehn und schrie B.H. an:

      „Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe du mir nicht sagst, was du unter dem ,ungeheuern Ereignisʻ verstehst, mit dem du mich nicht erschrecken willst . . .“

      VIERTES KAPITEL

      Worin ich die geforderte Belehrung empfange, das Haus der Hochzeiter betrete und dem Kreis erscheine, der mich zitiert hat.

      „ES WAR ein ganz gewöhnlicher Tag“, begann B.H., „ein Wochentag . . .“

      Er unterbrach sich und blickte mit gerunzelter Stirn auf den wundervoll gepflegten eisengrauen Rasen hinaus, der ganz unverständlichermaßen die glatte Erde bedeckte, von Horizont zu Horizont. Ich spürte, daß es meinem Freunde eine ganz beträchtliche Selbstüberwindung kostete, über „das Ereignis“ zu sprechen. Um ihm die Sache zu erleichtern, schaltete ich immer wieder Fragen ein. Zum Beispiel folgende:

      „Und du warst an diesem ganz gewöhnlichen Tage wieder einmal am Leben, B.H., wie?“

      „So genau kann ich das nicht immer sagen, F.W.“, erwiderte er streng. „Merk dir’s! Manchmal nämlich vermischt sich in meinem Bewußtsein die eigene persönliche Erfahrung mit dem allgemeinen historischen Wissen. Das Ereignis aber bleibt meine eigene Erfahrung, obwohl es der größte allgemeine Eindruck ist, welchen die Menschheit jemals hatte. Du weißt ja selbst, daß große Eindrücke und schwere Wunden erst nach und nach fühlbar werden, und daß die Erinnerung den Augenblick der Verwundung oft auszustoßen trachtet. Es war jedenfalls ein Tag wie jeder andere Tag . . .“

      „Verzeih, B.H.“, unterbrach ich ihn neuerdings, „könntest du vielleicht das Datum dieses alltäglichen Wochentags näher bestimmen?“

      „Wenn dir mit einem Datum gedient ist“, zuckte er die Achseln, „bitte schön. Es war ein überaus bewölkter Freitag. Und sonst, was jedes Kind seit undenklichen Zeiten weiß, war’s ein dreizehnter November . . .“

      „Daß es heutzutage noch einen bewölkten Alltag oder gar einen echten grauen Novemberdreizehnten geben könnte, das scheint mir sehr zweifelhaft“, sagte ich, indem ich die seltsam trockene Luft einschnupperte und zum nackten, unbeschützten Blau des Himmels aufblickte.

      „Das hast du ganz richtig erkannt, F.W.“, lobte mich mein Freund. „Wolken sind eine große Köstlichkeit, die wir astromentalen Menschen hoch verehren . . .“

      „Aber zu einem echten dreizehnten November gehört eine Großstadt“, schloß ich, nicht ohne Starrsinn.

      „Mein Gott, du stehst doch auf dem Boden einer Großstadt“, erklärte B.H., leise enerviert.

      „Ich nehme an“, mokierte ich mich, „daß deine Großstadt an jenem dreizehnten November sich anders präsentiert hat.“

      „Das ist doch selbstverständlich, F.W.“, wies der Wiedergeborene meinen leichten Spott zurück. „Natürlich hat sie anders ausgesehen und hat hundert Jahre vorher und hundert Jahre nachher wieder ganz anders ausgesehen. Der Weg ist lang, mein Lieber, den ich komme. Damals, am dreizehnten November, gab es entweder noch oder schon wieder Häuser über der Erde. Das Mentelobol freilich war noch nicht bekannt. Wir bewegten nicht das Ziel auf uns zu, sondern uns auf das Ziel zu, mit enormer und höchst ungesunder Geschwindigkeit. Du hättest deine Freude gehabt an jener Großstadt. Man trat durch die labyrinthischsten Passagen auf die Straße hinaus. Es gab noch den fröhlichsten Unterschied zwischen Trottoir und Fahrbahn. Es gab dichten Verkehr. Oben flogen die Gyroplane. Ihre Geschwindigkeit machte sie so unsichtbar, wie du es zum Beispiel jetzt bist, F.W. Unten stauten sich Frauen und Männer und Kinder vor den mächtigen Schaufenstern, hinter welchen Tag und Nacht die glänzendsten Revuen und Operetten von großen Künstlern aufgeführt wurden. Sogar an den lieben Milchmann erinnere ich