„Ist das Ihre erste Reise nach California?“
„Nein, Madame“, antwortete ich wahrheitsgemäß, und vor seelischer Anstrengung immer mehr schwitzend. „Ich habe hier vor längerer Zeit ein paar Jahre gelebt.“
„Oh, als Cowboy oder als Goldgräber?“ forschte sie schelmisch und gleichgültig zugleich, wobei sie mit einem eitlen Nachdruck ihr prähistorisches Wissen entblößte.
„Nein, Madame“, sagte ich, „weder als Cowboy noch als Goldgräber, und nicht einmal beim Film, sondern einfach nur als Emigrant . . .“
Ich suchte in den Hosentaschen meines Fracks nach einem Sacktuch und fand endlich eines, das nicht mehr rein war, weil ich es damals vergessen hatte, in die Wäsche zu geben. Ich ballte das Taschentuch in meiner Hand zusammen, damit man es nicht genau sehe, und begann verlegen meine Stirn zu wischen. Dabei ärgerte ich mich, daß die Dame, die einer solchen sonderbaren Erscheinung gewürdigt war, sich weit weniger erregt zeigte, als diese Erscheinung sich selbst fühlte. Sie setzte das Gespräch mit der teilnahmslosen Glätte und Geschicklichkeit einer konversierenden Großherzogin oder Milliardärin fort:
„Finden Sie unser California verändert, Seigneur?“
„Einigermaßen wohl“, hauchte ich, „aber ich will nicht zu schnell urteilen.“
Während dieser kleinen und so unbedeutenden Szene erkannte ich mit all meinen Nerven, daß dieser Leute tiefstes Bestreben dahin ging, jeder Peinlichkeit, jedem Konflikt, jeder Anstrengung, jeder Auseinandersetzung, jeder Entscheidung, jeder ernsten Mühsal aus dem Wege zu gehn. Diese Menschheit hier hatte im Gegensatz zu der unsrigen von damals im Laufe unzähliger Generationen eine Ordnung geschaffen, eine Art und Weise des Lebens, in der alle Widerstände gegen das Schöne, Gefällige, Angenehme, Schmeichelnde gebrochen zu sein schienen. Die Öde draußen und oben, jenseits ihres Hauses, ihres traulichen Lichtes, fühlten sie nicht. Sie wußten nichts mehr von grünen Bäumen und grünem Gras. Ihr Gras war eisengrau. Dabei konnte ich noch gar nicht wissen, wie sehr sie um ihre holde Konvention des Angenehmen und Bequemen bangten, die sie nicht billig, sondern durch schwere Resignationen erkauft hatten, wie es das Rezept jeder Kultur fordert.
Hilfesuchend sah ich mich nach B.H. um.
Eine Flügeltür öffnete sich.
FÜNFTES KAPITEL
Worin ich an einem Festmahl teilnehme, von einem Hund angesprochen werde und mich ahnungslos einem heiklen Thema nähere.
WIR GINGEN durch die Flügeltür in ein von etwas klarerem Lichte erfülltes Nebengemach, nicht anders, als in der Vorzeit eine Gesellschaft es tat, wenn sie zu Tisch gerufen wurde. Erstaunlicherweise war das Zimmer mit dem großen Familientisch nicht das Eßzimmer, sondern dieses hier, das weder Tisch noch irgendeine Sitzgelegenheit besaß. In der Mitte des Raumes erhob sich, von einem runden und niedrigen Gitter umgeben, aus einer flachen Vertiefung eine rötlich schimmernde Skulptur. Es war ein abstraktes Kunstwerk, das kein erkennbares Lebensbild darstellte. Am ehesten glich es einem süß elegisch geneigten Doppelkristall, wobei der größere Kristall den kleineren überragte wie die Mutter das Kind auf ihrem Schoß. Je mehr ich hinsah, um so unzweifelhafter wurde auch das abstrakte Kunstwerk zur Madonna mit dem Bambino, ein Vorwurf somit, für den hunderttausend Jahre waren wie ein Tag. Je mehr ich übrigens mich in die Skulptur vertiefte, um so klarer, ebenbildlicher, formenschöner schien sie zu werden. Sie besaß demnach die Eigenschaft, den Eindruck, den sie im Betrachter hervorrief, während der Betrachtung zu verwandeln, zu klären, zu intensivieren. Ich beschloß aber sofort, diesem Werke keine zu genaue Beachtung zu schenken und mich durchaus nicht in ein Gespräch über Kunst einzulassen. Denn erstens war es zu früh dazu im Zuge meiner Forschungsreise. Zweitens hatte ich vielzuviel unmittelbares Leben vor mir, um mich dem mittelbaren und abgespiegelten Leben hinzugeben. Und drittens war ich hochmütig genug zu glauben, daß ich auf dem Gebiete der Kunst nicht viel Neues erfahren würde. Auch hatte ich ja keine andere Erinnerungstafel als mein schwaches Gedächtnis, in das ich nicht allzuviele Einzelheiten eingriffeln wollte. Ich war willens, meine ganze Aufmerksamkeit den Menschen hier zu weihen und nur den Menschen. Beim Eintritt in das neue Gemach mit seinem klareren und bestimmteren Licht hatte man den zartgestalteten, nackten Persönlichkeiten weiche und mattfarbige Schleierstoffe gereicht, die sie, beinahe nach Art gewisser griechischer und römischer Plastiken, schönfaltig um ihre Körper warfen.
B.H. hatte sich jetzt dicht an meine Seite gespielt. Er flüsterte mir in eilig scharfem Kommentar zu, daß es keine größere Ehre für einen Gast gebe, als zu einem Festmahl geladen zu werden. Das Essen, soweit es nur Genuß und Ernährung sei, gelte als eine völlig private Tätigkeit. Im allgemeinen speise man so wenig in Gesellschaft, wie man das Gegenteil in Gesellschaft tue. Selten mehr als zwölfmal im Jahre werde ein gemeinsames Gastmahl zugerichtet, das aber stets auf eine sakrale Ursache oder einen zeremoniösen Zweck zurückzuführen sei: Feiertag oder Taufe, Trauungszeit oder Abscheiden (mir fiel hier zum erstenmal auf, daß B.H. statt des einfachen Wortes „Tod“ den geschraubten Euphemismus „Abscheiden“ verwendete). Die Einrichtung des religiösen Opfermahls, dachte ich, hat sich, wie es scheint, nicht nur erhalten, sondern ist lebendiger als zu meiner Zeit, zur Zeit vor meinem Tode, und ich dachte das Wort „Tod“ wörtlich wie zum Trotz.
B.H. warf mir unruhige Blicke zu aus seinen weichen, dunklen Augen, mir so vertraut aus unsern einstigen Schultagen. Ich verstand, daß er hier keine leichte Rolle spielte. Er selbst war ein Außenseiter, wozu er, seit ich ihn kannte, geboren schien durch seine feine und empfindliche Geistesart. Schon sein Aussehen und sein Anzug, Felduniform mit Wickelgamaschen, bewies, daß er nicht hierhergehörte, in die soeben verfließenden Zeitläufte. Andererseits aber war er das Medium, der Vermittler zwischen diesen soeben verfließenden Zeitläuften und unsern äußerst entlegenen und schon vor meinem Tode verflossenen. Er hatte den holden Leuten hier das gewiß nicht häufige Vergnügen bereitet, einen abgeschiedenen Geist der fernsten Vergangenheit in voller und durchaus nicht nur ekdoplastischer Erscheinung mit Frack und Orden bei sich empfangen zu können. Als Agent, der zwei Gegenparte zugleich vertreten mußte, fühlte er sich für beide verantwortlich, man wird das verstehen. Er wurde nervös, wenn ich den Mund auftat oder ein Schrittchen machte, immer einer neuen Entgleisung meinerseits gewärtig. Ich konnte ihm seine Ängstlichkeit nicht verargen, denn vielleicht hing von dem Erfolge des Unternehmens nicht wenig für ihn ab. Erweckte meine Erscheinung Befriedigung, Beifall, Sympathie oder gar gemütliches Wohlbehagen, flößte ich meinen Gastfreunden das muntere Gefühl ein, wie weit sie die alte urständige Welt, aus der ihr Besuch hereingeschneit kam, überflügelt hatten in dieser modernen Gegenwart, dann verbesserte sich die Stellung des Außenständers aufs vorteilhafteste. Vermutlich durfte er nach einer erfolgreichen Abwickelung dieser Visite einer wärmeren Form der Aufnahme und schließlich der vollen Einbürgerung hoffend sein. Ich bemerkte, und dies nicht ganz ohne Mißbilligung, daß der tibetanisch geschulte Wiedergeborene dem Kreise, in dem wir uns befanden, einen Schatten zu viel Demut und Verehrung erwies, wodurch er dessen Überlegenheit zuungunsten unseres einstigen gemeinsamen Zeitalters allzu geflissentlich betonte. Dies aber war nur die eine Seite seines nervösen Eifers, denn nicht minder brannte er darauf, mich, den alten Jugendgefährten, den Zech- und Diskussionskumpan verrauschter Nächte bis in den Morgen hinein, von der Höherwertigkeit einer Welt zu überzeugen, in die er mich unversehens aus der Todesnacht gelockt, zitiert und eingeführt hatte. Das war mir nicht neu