Und zugleich entfaltete er sorgfältig auf dem Tisch ein fünf Zoll langes, drei Zoll breites Pergamentstück, worauf in Querzeilen ein unverständliches Gekritzel von Schriftzügen sich befand.
Ich gebe hier ein genaues Faksimile derselben. Es ist mir darum zu tun, diese seltsamen Zeichen zur Anschauung zu bringen, weil sie den Professor Lidenbrock nebst seinem Neffen zu der sonderbarsten Unternehmung des neunzehnten Jahrhunderts veranlassten!
Der Professor betrachtete diese Zeichen eine Weile; dann sprach er, indem er seine Brille höher rückte:
»’s ist Runisch; diese Zeichen sind denen auf dem Manuskript Snorros völlig gleich! Aber … was mag das nur bedeuten?«
Da es mir schien, das Runische sei eine Erfindung der Gelehrten, um die ungelehrten Leute zu hintergehen, so war es mir nicht unlieb, dass mein Onkel nichts davon verstand. Das nahm ich wenigstens aus seinen Fingerbewegungen ab.
»Es ist doch Alt-Isländisch«, brummte er in den Bart.
Und der Professor Lidenbrock musste das wohl verstehen, denn er galt für ein Wunder von einem Sprachenkenner. Die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die man auf der Erde kennt, verstand er nicht nur geläufig, sondern sprach auch deren einen guten Teil.
Um dieser Schwierigkeit willen war er im Begriff, sich allen Stürmen seines heftigen Gefühls hinzugeben, als es auf der kleinen Uhr des Kamins zwei schlug, und die gute Martha die Tür mmit den Worten öffnete:
»Die Suppe ist aufgetragen.«
»Zum Henker mit der Suppe«, schrie mein Onkel, »samt der Köchin, und wer sie verzehrt!«
Martha entfloh, ich eilte ihr nach und befand mich, ohne zu wissen wie, an meinem gewöhnlichen Platz im Speisezimmer.
Ich wartete eine Weile. Der Professor kam nicht. Zum ersten Mal, meines Gedenkens, ließ er sich bei dem Mittagessen vermissen. Und doch, welch treffliches Essen! Petersiliensuppe, Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbsnierenbraten mit Pflaumenkompott, und zum Dessert Meerkrebschen mit Zucker, und dazu ein hübscher Moselwein.
Das alles versäumte mein Onkel über dem alten Papier. Wahrhaftig, als ergebener Neffe glaubte ich mich verbunden, für uns beide zu essen. Und ich tat es gewissenhaft.
»Das hab’ ich nie erlebt«, sagte die gute Martha. »Herr Lidenbrock nicht bei Tische!«
»Unglaublich.«
»Das hat was Arges zu bedeuten!« fuhr die Alte mit Kopfschütteln fort.
Meines Erachtens bedeutete es nichts anders, als eine fürchterliche Szene, wenn mein Onkel sein Essen aufgezehrt finden würde.
Ich war an meinem letzten Krebschen, als eine lauthallende Stimme mich den Genüssen des Nachtisches entzog. Mit einem Sprung war ich im Kabinett des Herrn.
1 Johannes Hevelius (1611–1687) war ein Astronom und gilt als Begründer der Kartografie des Mondes. <<<
Drittes Kapitel
»Es ist offenbar Runisch«, sagte der Professor mit Stirnrunzeln. »Aber ich werde das Geheimnis, das dahintersteckt, entdecken, sonst …«
Und er machte eine heftige Bewegung mit der Hand.
»Setz dich dahin«, fuhr er fort, indem er auf den Tisch hinwies, »und schreib.«
Im Augenblick war ich bereit.
»Jetzt will ich dir jeden Buchstaben unseres Alphabets diktieren, sowie er mit einem dieser Schriftzüge stimmt. Wir werden sehen, was dabei herauskommen wird. Aber nimm dich wohl in acht, dass du nichts verfehlst!«
Er fing an zu diktieren, und ich gab mir alle Mühe. Er benannte jeden Buchstaben einen nach dem anderen, und so bildeten sich folgende unverständliche Worte:
m.rnlls esreuel seecJde
sgtssmf uneeief niedrke
kt,samn atrateS Saodrrn
emtnael nuaect rrilSa
Atvaar .nscrc ieaabs
ccdrmi eeutul frantu
dt,iac oseibo Kediil
Als dies fertig war, nahm mein Onkel hastig das Blatt, worauf ich geschrieben hatte.
»Was will das bedeuten?« wiederholte er mechanisch.
Auf Ehre, ich hätte es ihm nicht sagen können. Übrigens fragte er mich nicht, und sprach weiter mit sich selbst:
»Das heißen wir eine Geheimschrift«, sagte er, »worin der Sinn hinter absichtlich durcheinander gemischten Buchstaben versteckt ist, welche in gehöriger Folge geordnet, eine verständliche Phrase bilden würden. Darin steckt vielleicht die Erklärung oder Andeutung einer großen Entdeckung!«
Ich meinesteils dachte, es stecke gar nichts dahinter, aber ich hütete mich wohl, meine Meinung auszusprechen.
Der Professor nahm darauf das Buch und das Pergament und verglich sie beide miteinander.
»Diese beiden Schriften sind nicht von derselben Hand; das Geheimschriftstück ist spätem Ursprungs, als das Buch, wie ich das gleich vorne aus einem unwiderleglichen Beweis ersehe. In der Tat, der erste Buchstabe ist ein doppeltes M, das in Sturlesons Buch sich nicht findet, denn es wurde erst im vierzehnten Jahrhundert dem isländischen Alphabet hinzugefügt. Also liegen wenigstens zwei Jahrhunderte zwischen dem Manuskript und dem Dokument.«
Das schien mir allerdings ziemlich folgerichtig.
»Das bringt mich auf den Gedanken«, fuhr mein Onkel fort, »diese geheimnisvolle Schrift sei von einem Besitzer des Buches verfasst worden. Aber wer zum Henker war dieser Besitzer? Sollte er nicht seinen Namen irgendwo unter das Manuskript gesetzt haben?«
Mein Onkel setzte seine Brille höher, nahm eine starke Lupe und musterte sorgfältig die ersten Seiten des Buches durch. Auf der zweiten Rückseite entdeckte er eine Art Flecken, der wie ein Tintenkleks aussah; aber genauer besehen unterschied man einige halb verloschene Schriftzüge. Mein Onkel begriff, dass es auf diesen Punkt ankomme; er machte sich also aufs Eifrigste darüber her, und erkannte