Als Maryscha den Vater so sprechen hörte, fing sie selbst an zu glauben, es gäbe keine Rettung mehr für sie. In ihr schrie etwas auf! Eine Stimme rief in ihrer Brust:
»Jaschku, Jaschku, Herzlieber, hörst Du mich in Lipiniez?«
Ihr wurde so todestraurig, daß sie laut zu schluchzen anfing. Das Schluchzen tönte durch den Raum, während der Sturm eine Pause zu machen schien, mitten in das Grabesschweigen der anderen hinein. Da rief eine Stimme: »Still dort!« Im selben Augenblick erlosch wieder eine der Lampen. Es wurde noch dunkler. Die Menschen rückten näher zusammen, das Schweigen des Schreckens lagerte über ihnen. Da tönte laut und vernehmlich in die Stille die Stimme Toporek's:
»Kyrie Eleyson!«
»Christe Eleyson!« antwortete schluchzend das Mädchen.
»Christe erhöre uns!
»Gott Vater im Himmel, erbarme Dich unser!« Sie beteten die Litanei. Die Stimme des Alten und das von Schluchzen unterbrochene Antworten des Mädchens, übten eine beruhigende Wirkung auf die anderen aus; eine feierliche Stimmung bemächtigte sich ihrer, einige der Auswanderer entblößten die Häupter und schienen still mitzubeten. Die Stimme Maryscha's gewann immer mehr an Festigkeit, sie sprach ruhiger, während das Toben des Sturmes von Außen her das Gebet begleitete.
Da plötzlich schrieen die der Thür zunächst Stehenden laut auf. Eine Sturzwelle hatte die nach dem Zwischendeck führende Thür aufgedrückt, ein Wasserstrahl ergoß sich plötzlich von oben herab in den Saal und drang bis in die äußersten Winkel. Die Frauen schrieen laut und stiegen auf die Bettstellen. Alle glaubten, das Ende sei da.
Einen Augenblick später trat der dienstthuende Leutnant herein. Er hielt eine Laterne in der Hand, war ganz durchnäßt, sein Gesicht von der angestrengten Arbeit gerötet. Mit wenigen Worten beruhigte er die Frauen, indem er erklärte, daß nur ein Zufall das Eindringen des Wassers verschuldet habe, daß die Gefahr nicht so groß sei, weil das Schiff auf offener See schwimme.
Noch zwei, bis drei Stunden tobte der Sturm, bald rasend heftig, bald etwas nachlassend. Allmälich beruhigten sich die Gemüter. Endlich schien es draußen zu dämmern. Ein blasser Lichtschimmer stahl sich durch das dicke Glas des Deckenfensters. Nachdem Lorenz und Maryscha alle Gebete verrichtet, die sie auswendig wußten, hüllten sie sich in ihre Schlafdecken und verfielen bald in tiefen Schlaf.
Sie wurden erst geweckt, als der Ton der Glocke zum Frühstück rief. Aber sie konnten nichts genießen. Ihre Köpfe waren schwer wie Blei! Lorenz befand sich noch schlimmer als seine Tochter. Er war außer sich. Der Agent, welcher ihn für die Auswanderung gewonnen, hatte ihm zwar gesagt, daß sie über das Wasser fahren würden, er hatte aber niemals gedacht, daß das Meer so groß sei. Er hatte gemeint mit einem Prahm hinüber zu kommen. Niemals hätte er sich auf dieses große Wasser begeben, wenn er es vorher gekannt hätte. Außerdem quälte ihn unaufhörlich der Gedanke, daß er sein und seiner Tochter Seelenheil leichtsinnig in Gefahr gebracht hatte. War das nicht eine große Sünde für einen Katholiken aus Lipiniez? War das nicht Gott versucht? Seine Gewissensbisse sollten während der nächsten sieben Tage noch zunehmen, denn der Sturm hielt volle achtundvierzig Stunden an, dann erst fingen die Wolken an zu brechen, der Nebel schwand allmälich. Endlich wagte Lorenz mit seiner Tochter wieder auf das Verdeck zu gehen, als sie aber die noch sehr hoch gehenden schwarzen Wasserberge, mit ihren Schlünden und Abgründen erblickten, mußten beide wieder denken, daß nur Gottes Hand allein sie glücklich bewahren könne.
Endlich wurde der Himmel wieder heiter. Aber ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß etwas anderes als Wasser rings zu sehen gewesen wäre. Bald schillerte die Flut grün, bald wie der Himmel blau, mit dem sie in Eines zusammenzufließen schien. Am Firmament tauchten von Zeit zu Zeit kleine weiße Wölkchen auf, welche sich gegen Abend rosig färbten und dann im fernen Westen verschwanden. Das Schiff schwamm ihnen unablässig nach. Das wiederholte sich täglich und Lorenz fing thatsächlich an zu glauben, daß das Meer endlos sei. Zuletzt faßte er Mut und beschloß, noch einmal eine Frage zu wagen. Eines Tages nahm er seine viereckige Mütze vom Kopfe, verneigte sich ehrfurchtsvoll vor einem vorübergehenden Matrosen und sagte demütig:
»Werden wir nicht bald an eine Landungsstelle kommen, gnädiger Herr?«
Und o Wunder! Der Matrose brach nicht in schallendes Gelächter aus, wie die anderen, wenn er zu sprechen anfing, sondern blieb stehen und horchte auf. Auf dem wettergebräunten Gesicht entwickelte sich ein lebhaftes Mienenspiel, es sah aus, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen. Nach einer Weile frug er:
»Was?«
»Ich frage, ob wir bald an das Land kommen?« antwortete Lorenz.
»Zwei Tage! Zwei Tage!« brachte der Matrose mühsam in polnischer Sprache heraus, indem er gleichzeitig zwei Finger emporhob.
»Ich danke ergebenst«, beeilte sich Lorenz zu sagen.
»Woher seid ihr?« frug der Matrose polnisch.
»Aus Lipiniez«.
»Was ist das Lipiniez?« frug er nun deutsch.
Maryscha, welche während der Unterhaltung herbeigekommen war, richtete mit schüchternem Erröten die Augen zu dem Matrosen empor und sagte mit sanfter Stimme:
»Wir sind aus Posen, mein Herr!«
Der Matrose sah unverwandt auf den Kopf eines großen kupfernen Nagels, welcher die Bordwände miteinander verband, endlich sah er das Mädchen an, betrachtete ihren Flachskopf wie etwas Wunderbares, dann zog es wie Rührung über die harten Züge, zuletzt brachte er ernst und langsam, halb polnisch, halb deutsch gesprochen, die Worte hervor:
»Ich war in Danzig ... verstehe polnisch ... Ich bin ein Kassube ... Euer Bruder, aber das ist lange her! – Jetzt bin ich deutsch ...«
Nach dieser Rede griff er nach dem Tauende, welches er bei der ersten Frage Toporeks hatte fallen lassen, drehte den beiden den Rücken und nach Matrosenart »ho! ho! o!« rufend, begann er daran zu ziehen ...
Von da ab lachte er sie immer freundlich an, so bald er Lorenz und Maryscha auf Deck sah und in ihre Nähe kam. Auch sie freuten sich sehr über ihre Bekanntschaft, denn nun hatten sie auf dem Schiffe unter den vielen fremden Menschen doch eine wohlwollende Seele, welcher sie sich im Notfalle anvertrauen konnten. Die Reise sollte ja auch nicht mehr lange währen. Zwei Tage später, als sie am frühen Morgen auf Deck kamen, erblickten sie zu ihrer Verwunderung in der Ferne einen großen schwimmenden Gegenstand auf dem Wasser. Als sie sich mit dem Schiffe ihm näherten, sahen sie erstaunt, daß es eine große rote Tonne war, welche sanft von den Wellen hin und her geschaukelt wurde. In einiger Entfernung tauchte bald noch eine, eine dritte, vierte Tonne auf. Ueber der See lag es wie ein leichter, durchsichtiger Schleier, sie schimmerte silbergrau und nur sanft kräuselte sich ihre Oberfläche. Soweit das Auge reichen konnte lag sie still, nur eine immer sich vermehrende Zahl Tonnen kam allmählich in Sicht. Unzählige Scharen weißer Vögel mit schwarzen Flügeln sammelten sich um das Schiff und folgten ihm auf seiner Fahrt. Auf dem Verdeck wurde es lebendig. Die Matrosen scheuerten dasselbe, putzten die messingenen Beschläge und Bänder blank, welche die Bordwände zusammen hielten, wuschen die Fenster und zogen, als diese Arbeit beendet war, frische Jacken an. Eine Fahne wurde am Mast aufgezogen, eine zweite auf dem Hinterdeck angebracht.
Die Reisenden überkam eine neue Lebensfreudigkeit und eine ungewohnte Rührigkeit. Alles, was lebte, erschien auf Deck. Man begann Gepäckstücke heraufzutragen und festzuschnallen.
Alle diese Vorbereitungen gaben Maryscha die Gewißheit, daß sie nun bald am Ziele ihrer Reise angelangt seien.
Neue Hoffnung bemächtigte sich ihrer und ihres Vaters, als nun westlich die erste Insel, Sandy-Hok, in Sicht kam und bald darauf eine zweite, mit einem in ihrer Mitte stehenden großen Gebäude. In der Ferne schwebte es wie verdichteter Nebel, eine Rauchwolke oder derartiges; undeutlich verschwommene, gestaltlose Gegenstände, bei deren Anblick eine große Bewegung auf Deck entstand. Fast alle