Seemanns-Legende und andere Erzählungen. Henryk Sienkiewicz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henryk Sienkiewicz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027212439
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Sie erkannten in dieser Stunde, daß nicht das Land ihre Heimat werden würde, welchem der feuchte Wind sie zutrieb, sondern, daß der Baum ihres Lebens tief wurzelte in jenem Erdstrich, den sie verlassen, in dem Stück heimatlicher Erde, wo die goldenen Aehren im Sommer wogen, die Wiesen bunt blühen und Luft und Wasser von lustigen Vögelscharen wimmeln, wo in den Dörfern die strohgedeckten Hütten stehen, stattliche Herrensitze sich bereiten und wo der Mensch den Menschen mit dem Gruße anspricht: »Gelobt sei Jesus Christus,« welchen der Andere erwidert mit dem Gegengruß: »In alle Ewigkeit, Amen!« Alle die Gefühle, welche bisher den beiden einfachen Menschen unbekannt geblieben waren, stürmten in dieser Stunde gewaltig auf sie ein. Der alte Toporek nahm die Mütze ab. Das Abendrot beleuchtete seine grau melierten Haare, in seinem Gesicht arbeitete es heftig, man sah, daß es ihm schwer wurde, einen Ausdruck für das zu finden, was er seiner Tochter gern sagen wollte. Endlich stammelte er:

      »Mir ist so, Marysch, als hätten wir dort etwas zurückgelassen.« Bei diesen Worten wies er mit der Hand rückwärts nach Osten zu.

      »Unser Glück, unser Lieben ist dort zurückgeblieben,« antwortete das Mädchen, während sie die Augen wie zum Gebet nach Oben richtete.

      Es war unterdessen finster geworden; die Passagiere begannen das Verdeck zu verlassen. Trotzdem herrschte auf dem Schiffe ein ungewöhnlich reges Leben. Oftmals pflegt einem so schönen Sonnenuntergange ein Unwetter zu folgen, deshalb ertönten die Signalpfeifen der Offiziere unablässig und die Matrosen arbeiteten unablässig am Takelwerk. Ein dichter Nebel stieg am Horizont auf, welcher von Minute zu Minute sich weiter über das Wasser verbreitete und bald den ganzen Gesichtskreis, ja sogar das Schiff umhüllte. Eine Stunde später sah man die Matrosen in der dicken Luft nur noch wie Schatten und noch etwas später auch sie nicht mehr, noch den Schornstein, noch die brennende Schiffslaterne. Alles war in einen weißlichen Dunst gehüllt.

      Das Schiff lag unbeweglich still; die Nacht sank lautlos und finster herab. Plötzlich ertönte vom Horizont her ein seltsames Geräusch. Es klang wie das schwere Atmen aus gepreßter Brust. Dann schien es, als töne ein Ruf durch die Finsternis, dann wie ein Rufen und Stöhnen verschiedener Stimmen durcheinander, welche aus der grenzenlosen Weite auf das Schiff zukamen, näher und näher. Der Kapitän stand, in einen Gummimantel gehüllt, am Vordersteven, der Leutnant auf seinem Platze. Außer Toporek und seiner Tochter befand sich niemand mehr von den Passagieren auf Deck. Nun verließen auch sie es, um in den gemeinschaftlichen Schlafsaal im Zwischendeck hinunterzugehen.

      Derselbe war groß, aber düster. Das Licht der Lampen, welche von der niedrigen Decke herabhingen, erhellte den Raum und die in Häufchen um ihre Betten zusammensitzenden Auswanderer nur spärlich. Die Luft darin war gesättigt von dem Geruch geteerter Leinwand, der Feuchtigkeit ausströmenden Schiffstaue und des Seetang. Gewöhnlich wirkt die zweiwöchentliche Ueberfahrt, verbunden mit dem Aufenthalt in diesem Räume, äußerst schädlich auf die Lungen der Reisenden. Auch Lorenz und Maryscha spürten die Folgen davon schon, obgleich sie erst wenige Tage unterwegs waren. Die Seekrankheit und die schlechte Luft hatten ihre Wangen gebleicht und ihre Konstitution geschwächt, umso mehr, als sie bis heute nicht gewagt hatten, den Saal zu verlassen im Glauben, das sei nicht erlaubt. Auch hatten sie ihre Sachen hüten wollen. So setzten sie sich gleich den anderen Reisegenossen auch wieder zu den ihrigen. Das Reisegepäck der Auswanderer lag in Bündeln im ganzen Saale umher. Betten, Kleidungsstücke, Mundvorräte, verschiedenes Kochgeschirr lag in buntem Durcheinander auf der Diele, während die Menschen teils auf ihnen, teils um sie herum saßen. Die einen kauten Tabak, andere rauchten. Der Qualm aus den Tabakspfeifen stieg empor zu der niedrigen Decke, stieß sich dort ab und zog in langen Streifen daran hin, das Lampenlicht verschleiernd. Ein paar Kinder weinten in den Winkeln, sonst herrschte tiefe Stille, denn der Nebel draußen hatte alle Gemüter traurig und ängstlich gemacht. Die Erfahreneren unter den Auswanderern wußten, daß er der Vorläufer eines Sturmes sei, niemand verhehlte sich mehr, daß eine Gefahr, möglicherweise der Tod nahe. Lorenz und Maryscha, welche sich mit Niemanden verständigen konnten, wußten von alledem nichts. Aber die eigentümlichen Töne, die zu ihnen drangen, sobald jemand die Thüre öffnete, erfüllten auch sie mit heimlichem Grausen.

      Man hatte sie, wie das schüchternen, in der Fremde ratlosen Menschen oft geschieht, in den schmälsten Teil des Saales, zunächst des Vorderteiles gedrängt, wo die Schwankungen des Schiffes am meisten sich bemerklich machten. Der Alte stillte seinen Hunger an einem Stück Brot, welches er aus Lipiniez mitgenommen, und das Mädchen, welchem der Müßiggang ein Greuel war, flocht sich die Zöpfe zur Nacht.

      Sie wunderte sich zuletzt doch über die unheimliche Stille, die den sonst so lauten Raum erfüllte.

      »Warum sprechen die Menschen heute gar nicht?« frug sie den Vater.

      »Ich weiß es nicht!« antwortete Toporek. »Sie müssen wohl irgend einen Feiertag morgen haben, der ihnen am Vorabend Schweigen auferlegt, oder so etwas ...«

      Plötzlich unterbrach ein heftiger Stoß seine Rede. Das Schiff knarrte in allen Fugen. Die Blechgeschirre flogen klappernd durcheinander, die Lampen lohten hell auf und flackerten dann hin und her. Einige Stimmen schrieen ängstlich durcheinander.

      »Was soll das sein? Was bedeutet das?« frug Lorenz.

      Aber er erhielt keine Antwort. Dem ersten Stoß folgte bald ein zweiter, heftigerer, der das ganze Schiff in's Schwanken brachte. Sein Vorderteil wurde in die Höhe gehoben, und ebenso plötzlich wie das geschehen, schien es in eine unermeßliche Tiefe zu sinken. Gleichzeitig schlug eine Sturzwelle mit lautem Getöse an die eine Schiffswand.

      »Ein Sturm kommt,« flüsterte Maryscha erschrocken.

      Jetzt brauste es die Schiffswände entlang, wie wenn ein heftiger Sturmwind sausend durch die Wipfel eines Waldes fährt, daß die Kronen sich tief neigen. Gleich darauf heulte es ringsum, als ob eine Heerde Wölfe ihre Stimmen ertönen ließen, und im nächsten Augenblicke legte der Sturm das Schiff ein, zwei Mal auf die Seite, drehte es im Kreise herum, riß es in die Höhe und schleuderte es in den Abgrund. Die Schiffswände krachten, der ganze Rumpf ächzte und stöhnte wie ein Kranker, die Gepäckstücke der Reisenden, die Kochgeschirre, Betten und Mundvorräte flogen von einem Winkel in den anderen. Ein Chaos entstand. Einzelne Bettstücke waren an Nägeln hängen geblieben, zerrissen; die Federn flogen umher, einige Menschen wurden umgeworfen, die Cylinder der Lampen klirrten melancholisch.

      Die über das Deck hereinbrechenden Sturzwellen verursachten ein Brausen, Poltern, Plätschern, welches tosend bis in das Zwischendeck hinunter drang. Dazu schrieen die Frauen, die Kinder weinten, die Männer suchten das Gepäck zu befestigen und all' diesen Lärm übertönte der gellende Pfiff der Signalpfeifen. Zuweilen nur konnte man die Tritte der auf dem Vorderdeck herumlaufenden Matrosen vernehmen.

      »Heilige Jungfrau von Tschenstochau!« flüsterte Maryscha.

      Ein neuer Anprall hob das Vorderteil des Schiffes haushoch in die Höhe, um es ebenso schnell wieder sinken zu lassen. Obgleich sich beide mit aller Kraft festklammerten, wurden sie so hinuntergeschleudert, daß sie wiederholt heftig an die Schiffswand schlugen. Das Gebrüll der Wogen übertönte jedes andere Geräusch während das Holz der Decke aus den Fugen zu weichen und herabzustürzen drohte.

      »Halte Dich fest Marysch!« schrie Lorenz mit aller Kraft, um das Toben der Wasser zu übertönen. Bald aber schnürte die Angst ihm und den anderen die Kehle zu. Die Kinder hatten zu weinen aufgehört, das Geschrei der Frauen war verstummt, man hörte nur heftiges schnelles Atmen, ein jeder suchte sich mit äußerster Anstrengung an irgend einen festen Gegenstand zu klammern.

      Die rasende Wut des Sturmes hatte aber ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Elemente waren entfesselt, der Nebel verdichtete sich noch mehr. Wolken, Wasser, Sturm und Gischt verbanden sich miteinander, um die Schrecknisse der Nacht noch zu vergrößern. Donnernd schlugen die Wogen bald über dem Schiff zusammen, bald warfen sie es seitwärts, spielten mit ihm, wie mit einem Ball, es flog nach rechts, links, stieg hoch empor bis an die Wolken, kurz es war ein gräßlicher Kampf mit den Elementen. Die Oellampen im Schlafsaal verlöschten eine nach der anderen. Es wurde immer dunkler in demselben, und Toporek glaubte nicht anders, als die Nacht des Todes sei für alle angebrochen.

      »Marysch!« rief er mit halberstickter Stimme.