Gehirnstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718810
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Reise nicht um einige Stunden aufschieben, Herr Professor?« Und er sprach schnell weiter, als Hornstein mit einem Ruck stehen blieb und ihn von der Seite her ansah. »Das Kind hat bereits Schlafmittel bekommen, es ist alles bereit. Und das Wichtigste — die Eltern rechnen fest damit, daß heute die Operation stattfindet. Wenn wir die Sache verschieben …. Morgen schon können sie ihre Einwilligung zurückziehen … ich habe das so im Gefühl … und dann kann sie keine Macht der Welt mehr dazu bewegen, ihre Zustimmung noch einmal zu geben. Und — das wäre für die Kleine ein Todesurteil. Wir wissen es.«

      »Und Sie meinen also, es sei meine Pflicht, die Reise aufzuschieben, ja?« Die Stimme des Professors war gefährlich leise.

      »Es handelt sich ja nur um eine Stunde, Herr Professor!«

      »Nein. Um einen ganzen Tag. Die nächste Maschine fliegt erst morgen. Aber — vielleicht können Sie die Flugpläne der Gesellschaft ändern. Können Sie das?«

      »Aber Herr Professor —!« Dr. Westhaus sah seinen Chefarzt verwundert an.

      »Sie unterstellen mir, daß ich nicht abwägen kann«, sprach der Professor mit erhobener Stimme weiter, »welcher Fall dringlicher ist: dieser oder jener. Sie sind der Meinung, daß mit meiner Urteilsfähigkeit nicht mehr alles stimmt, nicht wahr? Sie wollen mir Vorschriften machen, was ich zu tun und was ich zu lassen habe. Hier in meinem eigenen Haus!« Das schrie er laut, sein Gesicht war hochrot.

      Dr. Westhaus sah ihn erschrocken an, unfähig, ein Wort der Erwiderung zu finden.

      »Ich weigere mich, da mitzumachen!« schrie der Professor. »Ich weigere mich, diesen neuen Ton zu akzeptieren, der seit einiger Zeit in meiner Klinik herrscht. Ich weigere mich, von Ihnen Verhaltensmaßregeln entgegenzunehmen, Herr Oberarzt!« Seine Stimme kippte um, er stieß beide Hände empor, als müßte er einen unsichtbaren Gegner abwehren, seine Lippen zitterten. »Ich werde — werde — stammelte er, und Dr. Westhaus sah, wie sich sein Körper anspannte in der Anstrengung, sich selbst wieder in Gewalt zu bekommen. Als er schließlich weitersprach, klang seine Stimme fast normal, wenn auch ungewohnt scharf: »Ich fliege nach Helsinki. Die Kleine wird operiert, wenn ich zurückkomme. Sonst noch was, Herr — Oberarzt?«

      »Nein«, sagte Dr. Westhaus. »Nichts mehr.«

      »Es gibt Tage, an denen von Anfang an alles schiefgeht«, sinnierte etwas später der Oberarzt niedergeschlagen, als er der jungen Ärztin Dr. Eva Hochhoff auf dem langen Gang begegnete. Er wüßte, daß es eigentlich verkehrt war, seine Sorgen und Nöte vor einer Kollegin auszubreiten, die auf der niedrigsten Sprosse der ärztlichen Laufbahn stand — das jedenfalls war ihm immer gepredigt worden, und das hatte er in den langen, schweren Jahren seines eigenen Aufstiegs immer wieder erfahren müssen.

      Nun, Oberarzt Dr. Westhaus war der Meinung, daß diese hierarchische Ordnung der Vergangenheit angehörte. Eine Ansicht, die Dr. Eva Hochhoff mit ihm teilte.

      Die junge Ärztin war eine entfernte Verwandte von Professor Hornstein. Nach ihrem Praktikum war sie sofort in diese Klinik gekommen und wohnte in der Hornsteinschen Villa. Sie hatte kastanienbraunes Haar, ein eigenwilliges, interessantes Gesicht, weit auseinanderstehende, etwas schräggeschnittene grüne Augen und einen vollen Mund mit aufwärts gebogenen, lachbereiten Mundwinkeln. An ihrer Figur konnten selbst zynische Kollegen nichts aussetzen.

      »Was war denn eigentlich los?« fragte sie Westhaus.

      »Wenn ich das nur wüßte!« Der Oberarzt zuckte mit den Schultern. »Der Aufwand — auch der Stimmaufwand — stand in keinem Verhältnis zu der Ursache. Himmel, hat er mich angebrüllt! Und ich weiß nicht einmal, warum. So kenne ich ihn gar nicht. Früher —«

      »Stimmt. Er hat sich unheimlich verändert«, sagte Eva Hochhoff. »Allein in der kurzen Zeit, seit ich hier bin. Ich werde nicht klug aus ihm.«

      »Er hat mir da Sachen unterstellt…« Der Oberarzt winkte ab, als wollte er nicht mehr über dieses unerquickliche Thema sprechen. »Wahrscheinlich ist er überarbeitet.«

      »Glauben Sie?« Eva sah nachdenklich durch das Fenster in den Klinikgarten. »Ich weiß nicht, ob man das damit erklären kann. Ich kenne ihn schon lange — seit ich mich erinnern kann. Mein Bruder und ich kamen früher immer auf Ferien hierher in sein Haus. Und ich habe eher das Empfinden, irgend etwas bedrückt ihn. Als würde er etwas mit sich schleppen, womit er nicht fertig wird.«

      »Und ich weiß nicht, wie ich mit Angelikas Eltern fertig werde«, sagte der Oberarzt nachdenklich. »Sie warten unten. Ich habe das Gefühl, daß sie sich über den Aufschub der Operation sehr freuen werden. So sehr, daß sie ihre Einwilligung zurückziehen. Einmal konnten wir sie überrumpeln. Ein zweites Mal wird das nicht mehr gehen.«

      »Aber das ist doch —«

      »Sie können dazu alles sagen. Unverantwortlich, blind, dumm … was weiß ich. Aber wissen wir, wie es in dem Herzen einer Mutter, eines Vaters aussieht, deren Kind … Hoffentlich kann ich sie überzeugen, hoffentlich!«

      Doch als der Oberarzt unten im Warteraum Angelikas Eltern gegenüberstand, wußte er, daß sich seine Befürchtungen bewahrheiten würden, hätte er ihnen gesagt, daß die Operation aufgeschoben worden sei.

      »Haben Sie — ist Angelika schon —«, begann Angelikas Vater, ohne den Gruß des Oberarztes zu erwidern, als dieser in das Wartezimmer trat. Herr Bergner, ein Bäcker, war ein großer, schwerer Mann, seine Hände schlossen und öffneten sich immer wieder.

      »Nein — noch nicht«, sagte Dr. Westhaus.

      »Herr Doktor —«, begann Frau Bergner, und in ihren Augen stand stumme Verzweiflung. Aber ihr Mann unterbrach sie.

      »Wir hätten es nicht zulassen dürfen!« sagte er. »Nein. Nie hätten wir … diese kleinen Anfälle … sie war ein gesundes Kind, lustig … bestimmt wäre es von selbst besser geworden … ich kenne einen Heilpraktiker …«

      »Nein«, sagte Dr. Westhaus hart. »Es wäre nicht von allein besser geworden. Und kein Heilpraktiker der Welt könnte hier helfen.«

      Doch Bergner hörte ihm gar nicht zu. Im wirren Knäuel seiner Gedanken, Ängste, Befürchtungen, Selbstvorwürfe eingefangen, voller Vorurteile, spann er seinen Faden weiter, das Bild seiner Kleinen vor den Augen, wie sie auf dem Operationstisch lag, umgeben von schrecklichen, blitzenden Instrumenten, wehrlos ausgeliefert. »Niemals«, sagte er, »hätten wir zulassen dürfen, daß Sie ihr das Köpfchen … mein Gott, wenn ich daran denke …!«

      »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Dr. Westhaus eindringlich. Daß die Operation aufgeschoben worden war, verschwieg er. Er hätte es jetzt sagen müssen. Aber irgend etwas verschloß ihm den Mund ….

      Angelikas Vater beugte sich vor. »Bitte, Herr Doktor«, flüsterte er heiser, »bitte, geben Sie acht, wenn die Kleine operiert wird, bitte! Sie ist unser … Angelika ist… bitte…!«

      »Ja, ich verspreche es ihnen«, sagte Dr. Westhaus. Er drehte sich um und ging hinaus. Was er eben unterlassen hatte, konnte ihn seine Laufbahn kosten, und was er zu tun im Begriff war, erst recht. Er wußte es und hatte Angst. Aber blieb ihm eine andere Entscheidung? Ihm nicht…

      Oben suchte er Olga, die Operationsschwester, auf.

      »Bereiten Sie alles vor für den Eingriff an Angelika«, sagte er, und seiner Stimme war nicht anzumerken, wie schwer ihm diese Worte fielen.

      »Aber — ich dachte, daß …« Die OP-Schwester sah ihn überrascht an.

      »Es ist gleichgültig, was Sie gedacht haben!« fuhr der Oberarzt sie an. »Klar?«

      »Ja, Herr Oberarzt…«

      Eine Stunde später.

      Alles war zur Operation bereit.

      Dr. Eva Hochhoff hatte als Narkoseärztin Angelika eine Dauertropfinfusion angelegt. So konnten dem Kind während des Eingriffes selbst noch zusätzliche etwa notwendig werdende Medikamente direkt zugeführt werden.

      Anschließend hatte sie Angelika eine kleine Dosis Curare eingespritzt, um eine