Gehirnstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718810
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Paltkala berichten zu lassen«, sagte Dr. Rissanen.

      Dr. Paltkala nickte. »Herr Kollege Rissanen hat mich als Hausarzt Professor Kueinens vorgestellt. Das stimmt und stimmt wiederum nicht. Der Patient war immer gesund — oder behauptete es zumindest. Ab und zu ein Schnupfen. Hausarzt war ich eigentlich nur für seine Familie. Er selbst hielt sich auch dann noch für gesund, als er es nicht mehr war. Ich durfte ihn erst untersuchen, als seine Kopfschmerzen so stark wurden, daß keine Tabletten mehr helfen wollten.«

      »Seit wann litt er an Kopfschmerzen?« fragte Professor Hornstein.

      »Seit etwa einem Jahr.«

      »Waren dies die einzigen Symptome für die Erkrankung?«

      »Nein. Ich habe mit seiner Frau und mit seinen Mitarbeitern gesprochen. Die Ergebnisse sind auch Dr. Rissanen bekannt.«

      »Wir haben festgestellt«, begann Dr. Rissanen, »daß der Krankheitsprozeß etwa vor einem Jahr begann — mit dem Auftreten der Kopfschmerzen. Förk Kueinen war bei seinen Mitarbeitern und Studenten sehr beliebt. Seine Vorlesungen waren ein Muster an Systematik. Plötzlich aber begann er vom Hölzchen aufs Stöckchen zu springen, wie man so sagt. Seine Redeweise bekam etwas Ungeordnetes. Er wurde ungeduldig, reizbar, ausfallend und ungerecht. Seine Vorlesungen und Seminare wurden immer schlechter besucht — er hat, wie Sie wissen, den Lehrstuhl für Chemie auf unserer Universität inne. Früher die personifizierte Ordnung, machte er sich jetzt nichts mehr aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten kam er auch nicht mehr weiter. Und dann begann er plötzlich über Kopfschmerzen zu klagen. Sie seien so unerträglich, sagte er, daß er glaube, verrückt werden zu müssen. Und erst da ließ er sich untersuchen. Wir haben alles getan, was notwendig war: Röntgen, EEG, HNO und so weiter. Ich werde Ihnen das Material natürlich gleich zeigen. Obwohl ich Ihrer Diagnose nicht vorgreifen möchte, Herr Professor, glaube ich doch, daß eine Operation unumgänglich ist.«

      »Und warum operieren Sie nicht selbst?« fragte Professor Hornstein.

      »Ich? Nein!« Dr. Rissanen schüttelte den Kopf. »Ich weiß: Das Leben eines jeden Menschen ist kostbar. Aber hier… ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen werden, Herr Professor, hier handelt es sich um Förk Kueinen …«

      Förk Kueinen: Ein knochiges, graues Gesicht unter der hohen Stirn, schütteres Haar, blutleere, schmale Lippen, eine spitze Nase, auf der Bettdecke liegende Hände, grau wie das Gesicht. Teilnahmslos dahindämmernd.

      Professor Hornstein hatte es nicht anders erwartet. Das war der typische Zustand der Gehirnkranken, in der Fachsprache als »somnolent« bezeichnet. Der Kranke war ständig in einer Art Halbschlaf befangen.

      Dr. Rissanen sprach sehr laut und eindringlich auf den Nobelpreisträger ein.

      Offensichtlich bemühte er sich, ihm die Tatsache klarzumachen, daß Professor Hornstein aus Deutschland gekommen war, um ihn zu operieren.

      Der Kranke öffnete für einen Augenblick die Augen, blickte die Männer vor seinem Bett verständnislos an, schloß sie wieder.

      »Augenspiegel, bitte!« Professor Hornstein setzte sich auf den Bettrand, hob das linke Lid des Patienten hoch, betrachtete aufmerksam den Augenhintergrund.

      Die Schwellung der Sehnervenpapille war deutlich sichtbar.

      »Hochgradige Stauungspapille. War ja auch nicht anders zu erwarten.«

      »Sechs Dioptrien«, sagte Dr. Rissanen.

      »Einschränkung des Gesichtsfeldes?«

      »Auch das.«

      Professor Hornstein betrachtete nachdenklich das teilnahmslose, bleiche Gesicht des Kranken.

      »Wie alt?«

      »Fünfundvierzig.«

      »Herz? Kreislauf?«

      »Professor Kueinen hat auf seine Gesundheit nie sehr große Rücksicht genommen.«

      Jetzt bewegten sich die Lippen des Kranken plötzlich. Seine Lider zitterten, als gäbe er sich Mühe, die Augen zu öffnen. Dr. Rissanen beugte sich gespannt über das Bett. Er konnte das Flüstern des Kranken kaum verstehen. Schließlich richtete er sich wieder auf und sagte zu Professor Hornstein:

      »Er sagt, sein Kopf käme ihm vor wie ein Nest voll bissiger, hungriger Ratten, die nagen, nagen, nagen … Er bittet Sie, die Ratten zu töten, er bittet Sie …« Und dann leiser, nur für Professor Hornstein: »Verstehen Sie nun, warum ich Sie so dringend hierhergebeten hatte? Wenn Sie auch noch die Befunde sehen … Sie sind der einzige, der hier noch helfen kann!«

      Auch der Nachmittag hatte einigen Ärger für Oberarzt Dr. Carl Westhaus auf Lager.

      Nun, wenigstens schien Eva die Geschichte mit Angelikas Eltern ausgebügelt zu haben, dachte er während der Visite. Er ertappte sich dabei, daß er die junge Ärztin in Gedanken »Eva« nannte, daß er an sie nicht als an irgendeine Kollegin dachte, sondern anders, persönlicher — und voller Dankbarkeit.

      »Es ist alles in Ordnung«, hatte sie ihm nach dem Auftritt im Warteraum im Vorbeigehen gesagt. »Es war ein schweres Stück Arbeit, aber Sie brauchen sich keine Gedanken mehr zu machen.« Wie sie es wohl angestellt hatte …

      Jetzt, während der Visite, mußte er sich zwingen, bei der Sache zu bleiben — und er war fast dankbar für die Unterbrechung, als Schwester Gerda ins Zimmer gelaufen kam.

      »Herr Oberarzt — Sie müssen sofort ins Chefzimmer. Die Labergerin — oh — Fräulein Laberger…« Verwirrt schwieg sie.

      »Was will Fräulein Laberger?« half ihr der Oberarzt.

      »Frau Viola Römer ist da, die Pianistin und …«

      »Um Himmels willen!« Er wandte sich an den Assistenzarzt: »Fröhlich, machen Sie weiter. Da muß ich wohl hin.«

      Viola Römer war eine gottbegnadete Pianistin, anfang Dreißig. Wo sie auftrat, wurde sie stürmisch gefeiert. Ihre Launen aber, Stimmungen, Ausbrüche und Szenen, die sie ihrer Umgebung hinlegte, waren nicht minder stürmisch und machten ein Gutteil ihres Ruhmes aus.

      Sie war in Begleitung ihres Verlobten erschienen, der zugleich auch ihr Agent war, eines gewissen Dr. Ernest Enders. Mit wilden, weitausgreifenden Schritten rannte sie im Chefzimmer auf und ab, hielt sich mit beiden Händen den Kopf und machte ihrer Empörung mit lauten Worten Luft.

      Vergebens versuchte Dr. Enders sie zu beruhigen. »Aber ich bitte dich, Viola! Ja, ja, ich weiß, es ist unverschämt von diesem Professor, einfach abzureisen, obwohl wir uns angemeldet haben, aber es hat keinen Sinn, sich jetzt aufzuregen. Du wirst davon nur Kopfschmerzen bekommen.«

      »Bekommen? Ich habe sie, du Esel! Ich werde mich bei der Ärztekammer, oder wie das heißt, beschweren. Ich werde … oh, mein Kopf platzt bald. Und da wagt es dieser Professor … hier muß doch ein Beschwerdebuch …«

      »Guten Morgen, gnädige Frau!«

      Das war Oberarzt Dr. Westhaus, der von beiden unbemerkt ins Chefzimmer gekommen war. Seine Stimme war tief, wohlklingend, und, wie er glaubte, beruhigend. Aber auf Viola Römer wirkte sie überhaupt nicht, und er mußte wilde Beschimpfungen über sich ergehen lassen, bevor er weitersprechen konnte.

      Seine Antwort kam ihr so unerwartet, daß sie die Augen weit aufriß.

      »Gnädige Frau — wenn Sie wüßten, welche Ehre es für mich ist, daß ich Sie persönlich begrüßen darf. Vor allem nach Ihrem letzten Konzert in München … ich bin eigens hingefahren, um Sie anzuhören, ein unvergeßliches Erlebnis!«

      »Ja? Wirklich?«

      »Bestimmt«, log der Oberarzt weiter, »und ich werde keines Ihrer Konzerte versäumen. Das dürfen Sie mir glauben, gnädige Frau.«

      »Und du Esel behauptest immer, Ärzte seien unmusische Menschen!« fauchte Viola ihren Verlobten an, der mit unbeweglicher Miene danebenstand. »Ja, ja, ich weiß es besser. Da war doch auch so ein Arzt, der ein Buch geschrieben hat. Ich erinnere mich