Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726444797
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ein andermal.« Er ging an ihr vorbei auf den Flur hinaus.

      Sie lief ihm nach. »Du hast doch meine Telefonnummer? Ruf mich an, wenn du mal Zeit und Lust hast.«

      »Hoffentlich mußt du dann nicht wieder Besuche machen«, sagte er spöttisch.

      »Bestimmt nicht«, versicherte sie. »Heute ist eine Ausnahme!«

      Als er die Klinke der Wohnungstür schon in der Hand hatte, ließ sie sich noch einmal von ihm anfassen. Obwohl sie innerlich vor Ungeduld fieberte, ihn endlich loszuwerden, hielt sie es für angebracht, ihm dieses letzte Vergnügen zu gönnen. Der Gedanke, daß ein Mann sie unzufrieden verlassen könnte, bereitete ihr Unbehagen.

      Der Trick wirkte. Das Gesicht des Manns hellte sich auf. »Ein Luder bist du«, sagte er, »aber ein dolles! Bis bald, Kitty . . . ich lasse von mir hören!«

      Helga Reimers, alias Kitty, verschloß die Wohnungstür hinter dem letzten Kunden und legte die Sicherheitskette vor. Sie lief in ihr kleines, elegant und behaglich eingerichtetes Wohnzimmer, holte einen Schlüssel aus einer großen chinesischen Vase heraus, schloß die Kredenz auf, holte ihre leuchtend grüne Krokodilledertasche heraus und trug sie in die Küche.

      Die elektrische Uhr an der Wand zeigte an, daß fünf Uhr morgens schon vorüber war. Kitty öffnete das Küchenfenster. Die graue, fahle Morgendämmerung über Frankfurt wurde im Osten von der aufgehenden Sonne mit einem sanften rötlichen Schimmer erhellt. Ein Schwall der frischen, taufeuchten Frühlingsluft drang in die Küche, blähte die weißen Tüllgardinen auf, ließ Kitty erschauern. Hastig schlug sie das Fenster wieder zu.

      Sie setzte einen Kessel mit Wasser auf den Herd, stellte eine Tasse und Pulverkaffee bereit.

      Dann setzte sie sich mit übereinandergeschlagenen Beinen an den Tisch, öffnete das Reißverschlußfach ihrer Handtasche und begann ein Bündel Scheine zu zählen. Den Betrag trug sie in ein dickes Notizbuch ein. Zwei Hundertmarkscheine zog sie aus dem Bündel und steckte das übrige Geld in eine Stahlbüchse, die sie aus dem Küchenschrank nahm. Den kleinen Schlüssel wollte sie schon in die Krokodiltasche zurücklegen, besann sich aber anders, holte eine einfache graue Tasche aus ihrem Schlafzimmer, steckte den Schlüssel und auch die beiden Banknoten hinein, ihren Ausweis dazu.

      Der Wasserkessel pfiff. Kitty überbrühte den Pulverkaffee und zündete sich eine Zigarette an.

      Wieder schlug sie ihr dickes Notizbuch auf, diesmal bei der Seite mit dem heutigen Datum: 18. Mai. Hier standen die Decknamen der nächtlichen Kunden, dahinter die Beträge. Jetzt schrieb sie dazu: »Glatze – DM 300.«

      Nach kurzem Überlegen malte sie dahinter ein kleines, »v. e«. Ihre Abkürzung für das Prädikat: »Vielleicht ergiebig.« Sie zögerte, wollte die Buchstaben wieder ausstreichen, entschloß sich dann aber, es mit einem Fragezeichen dahinter bewenden zu lassen.

      Sie nahm einen vorsichtigen Schluck des heißen Kaffees. Dann blätterte sie noch einmal in ihrem Notizbuch zurück und widmete sich ganz ihrer Lieblingslektüre, dem Studium von dreistelligen und vielstelligen Zahlen. Dabei bewegte sie unaufhörlich die Lippen, wie ein Schulkind bei einer schweren Rechenaufgabe. Die Asche ihrer Zigarette streifte sie achtlos auf der Untertasse ab.

      Als der Kaffee getrunken, eine zweite Zigarette geraucht war, klappte Kitty mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung ihr inhaltsreiches Notizbuch zu. Sie fühlte sich jetzt entschieden besser. Das benutzte Geschirr stellte sie ins Spülbecken, und die Krokodilledertasche verschloß sie wieder an ihrem gewohnten Platz.

      Dann streckte sie die Arme und lief gähnend ins Bad. Sie knipste das Licht an, betrachtete ihr Spiegelbild nachdenklich in dem unerbittlichen Neonlicht, dann griff sie mit beiden Händen in ihre kupferroten Locken. Ein Ruck, und – sie hielt die ganze Pracht in ihren Händen. Zum Vorschein kam kurzgeschnittenes weiches, aschlondes Haar, das sich, unter dem Druck der Perücke, eng an den Kopf gelegt hatte.

      Sorgfältig stülpte sie die Perücke über einen hölzernen Kopf, riß die langen nachtschwarzen Wimpern ab und machte sich daran, ihr stark geschminktes Gesicht gründlich zu reinigen. Dann setzte sie eine Badehaube auf und stellte sich unter die Dusche.

      Als sie sich später, in ihren schneeweißen Frottee-Mantel gehüllt, vor den großen dreiteiligen Spiegel in ihrem Schlafzimmer setzte, glaubte sie, sich der Helga von früher gegenüber zu sehen, dem abenteuerlustigen Mädchen aus Bingen, das sich aufgemacht hatte, die Welt zu erobern. Ihr helles Gesicht wirkte jetzt, ohne Schminke und ohne falsche Locken, völlig verändert.

      Sie beugte sich dem Spiegel entgegen, suchte nach Spuren, die all diese Nächte auf ihrem jungen Gesicht hinterlassen haben mußten. Aber ihre Haut war glatt und gepflegt, noch zeigten sich keine Falten, keine Runzeln. Die bläulichen Schatten unter ihren Augen würden verschwinden, wenn sie erst wieder einmal richtig ausgeschlafen war. Niemand, der sie so sah, hätte erkennen können, wer sie war und wie sie ihren Lebensunterhalt verdiente.

      Nein, dachte sie, keine Rede davon, daß ich auf die schiefe Ebene geraten bin. Ich tu’s ja freiwillig, und ich weiß genau, warum. Wenn es mir nicht mehr paßt, kann ich jederzeit aussteigen.

      Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie ihre dichten Wimpern tuschte. Sie verzichtete für heute auf den Lidstrich, legte nur ein helles, kaum merkbares Make-up auf, wählte eine zarte Pastellfarbe für ihre Lippen. Sie bürstete ihr kurzgeschnittenes aschlondes Haar, bis es wieder Glanz bekam, toupierte es, damit es sich locker und natürlich um ihr Gesicht legte und ihre etwas niedrige Stirn kaschierte.

      Als sie den Bademantel von den Schultern gleiten ließ, entdeckte sie die häßlichen dunklen Flecke auf ihren Armen.

      »Verdammt«, murmelte sie. Ihre Augen verengten sich, sie biß sich auf die Lippen.

      Aber sie hatte sich sofort wieder gefaßt. Was soll’s, dachte sie, ziehe ich eben eine Bluse mit langen Ärmeln an.

      Dann wählte sie ein einfaches graues Kostüm vom vorigen Jahr, und als sie fertig angezogen war, wirkte sie – in der hochgeschlossenen weißen Hemdbluse, dem schlichten Kostüm, weißen Waschlederhandschuhen und weißen Pumps – überaus brav. So meinte sie jedenfalls.

      Aber sie war sich nicht bewußt, daß ihre Augen sie immer verraten würden, diese grünen, leicht schräggestellten Augen, die mit soviel kaltem Wissen in die Welt blickten – Augen, die sich der eigenen Macht bewußt waren und der Schwäche der Männer.

      Wenige Minuten später verließ Helga Reimers alias Kitty ihre Wohnung in dem modernen Appartementhaus, dessen glatte, helle Fassade so viele verschiedene Schicksale verbarg.

      Es war inzwischen acht Uhr geworden. Die Großstadt zeigte ihr farbloses, verschlafenes Sonntagsgesicht. Kitty stellte ihren Vulkanfiberkoffer ab, in den sie die Geschenke für ihre Familie gepackt hatte – ihre Tasche und die Stahlbüchse hielt sie unter den Arm geklemmt –, schloß ihren weißen Mercedes 220 auf, warf den Koffer nach hinten, setzte sich ans Steuer, fuhr los.

      Vor der Bank am Hauptplatz stoppte sie, zog die Handbremse, wartete ein paar Sekunden und beobachtete mißtrauisch die wenigen Passanten. Dann stieg sie aus, ließ die Tür offen, lief über den Bürgersteig und warf die Stahlbüchse in den Nachttresor. Dann fuhr sie weiter zu einer Großtankstelle, mit Reparaturwerkstätte, wo sie ihren Wagen regelmäßig überholen und pflegen ließ.

      Ben, ein blonder neunzehnjähriger Junge im blauen Overall, lief herbei, als sie den Mercedes vor der Zapfsäule zum Halten brachte, und riß die Tür auf. Als er Kitty in ihrer bürgerlichen Aufmachung sah, stutzte er, zog die hellen Augenbraunen hoch und grinste.

      »He, Kitty . . . heute mal nicht auf dem Kriegspfad?« rief er. »Hast du wohl gar nicht mehr nötig, wie?«

      Sie schwang die langen, schlanken Beine aus dem Wagen. »Du kannst mich mal«, sagte sie, durchaus nicht unfreundlich.

      »Wann?« fragte er prompt.

      Sie sah ihn abschätzend an. Er war ein hübscher Junge, und sie mochte ihn. »Jederzeit nach Voranmeldung«, sagte sie lächelnd, »aber nicht umsonst!«

      Er wich einen Schritt zurück.