Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Billingham
Издательство: Bookwire
Серия: Tom Thorne
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788742820186
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du nichts zu tun, Tom?«

      Phil Hendricks hatte die Nacht durchgearbeitet, und noch bevor Keable sich mit seinem Chef zu einem zweiten Frühstück mit Kaffee und Croissants zusammengesetzt hatte, hatte Thorne die gewünschten Informationen erhalten. Helen Doyle war mit Midazolam zugedröhnt worden und infolge eines Gehirnschlags gestorben. Trotz des Fundorts der Leiche und der veränderten Vorgehensweise des Mörders gab es keinen Zweifel, dass Helen das fünfte Opfer desselben Mannes war. Das war so ziemlich alles, was sie wussten, abgesehen davon, dass die Gerichtsmediziner einige Fasern an Helen Doyles Rock und Bluse gefunden hatten. Thorne setzte sich sogleich ans Telefon.

      »Gibt’s irgendwelche Informationen über diese Fasern?«

      »Nun, es sind Teppichfasern, vielleicht vom Boden des Wagens.«

      »Kannst du den Typ bestimmen?«

      »Was glaubst du, wo wir hier sind? In Quantico?«

      »Wo?«

      »Vergiss es. Wir arbeiten dran. Treib uns lieber den passenden Boden dazu auf ... «

      Die veränderte Vorgehensweise des Mörders beschäftigte Thorne, doch es blieben dieselben Fragen, die beantwortet werden mussten. Wie hatte er die Frauen so weit gebracht, dass sie ihn mit zu sich nach Hause nahmen oder, wie in Helen Doyles Fall, zu ihm ins Auto stiegen? Helen Doyle wies ebenso wenig wie Alison Willetts und Susan Carlish äußere Verletzungen auf und war ebenfalls voll gepumpt mit Alkohol und einem Benodiazepin. Aber wie kam das? Hatte der Mörder Helen den ganzen Abend über beobachtet und etwas in ihr Getränk geschüttet, bevor sie den Pub verlassen hatte? Das wäre schwierig gewesen — sie war mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen, und außerdem wäre es fast unmöglich gewesen, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Woher hätte er so genau wissen sollen, wann das Medikament wirkt? Eine bessere Theorie hatte Thorne nicht, sodass er so viele Zeugen wie möglich finden musste, die zu besagtem Zeitpunkt im Marlborough Arms gewesen waren. Das hieß, dass nicht nur Helens Heimweg überprüft werden, sondern dass Frank Keable so viele Mitarbeiter wie möglich auftreiben musste. Thorne hoffte, jemanden zu finden, der Helen nach Verlassen des Pubs gesehen hatte.

      »Gibt es etwas, womit ich dir helfen kann?«

      Tughan lächelte, doch seine Augen sahen aus wie eingelegte Zwiebeln. Er war gertenschlank, hoch intelligent und seine Stimme konnte sich wie ein Skalpell durch den Lärm in der Einsatzzentrale schneiden. Thorne stellte sich immer Tughans schmale Lippen vor, die in die Sprechmuschel flüsterten, wenn irgendein Wahnsinniger Scotland Yard mit einer codierten Warnung behelligte. Es war nicht so, dass Thorne nicht schätzte, wozu Tughan fähig war oder was er zu den Ermittlungen beitrug — Thorne hatte einfach nur seine eigene Art, sich mit einem Fall zu beschäftigen, und er konnte ums Verrecken nicht tippen und hatte immer das Gefühl, von den Bildschirmschonern hypnotisiert zu werden. Wenn neue Beweise gefunden wurden, war Tughan der Mann, der ihnen mit seinen Vergleichs- und Ordnersuchprogrammen einen Sinn gab. Thorne wusste, dass Calvert sein Verbrechen nicht hätte begehen können, wenn es schon vor fünfzehn Jahren statt der tausend Aktenordner einen Nick Tughan und statt des antiquierten Karteikartensystems ein Holmes-Computersystem gegeben hätte.

      »Hey, Tommy, scheiß auf den Fall Calvert, was ist mit unserem Fall!«

      »Tom?«

      »Genau ... tut mir Leid, Nick. Hast du eine Kopie von den Leicester/London-Treffern parat?«

      Tughan brummte, blätterte am Bildschirm und klickte zweimal. Der Drucker am anderen Ende des Büros surrte los. Thorne hatte eigentlich gehofft, dass Tughan schon einen Ausdruck bereitliegen hatte. Es wäre einfacher gewesen, zu seinem eigenen Goldfischglas hinüberzugehen und die Kopie von seinem Schreibtisch zu holen, doch er wollte Tughan den kleinen Triumph in Sachen Effizienz nicht missgönnen. Schließlich missgönnte er ihm sonst alles, ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte.

      Thorne blickte auf die Liste. Ein halbes Dutzend Ärzte, die im Leicester Royal Infirmary zu dem Zeitpunkt turnusmäßig gewechselt hatten, als das Midazolam geklaut worden war, arbeiteten jetzt in Londoner Krankenhäusern. Anne Coburns Aussage hatte jeglichen Enthusiasmus gedämpft, der in diese Richtung der Nachforschungen geführt hätte, und die Entdeckung von Helen Doyles Leiche hatte mit Recht alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch Thorne hatte immer noch das Gefühl, dass diese Liste wichtig sein könnte. Das Datum des Midazolam-Diebstahls ließ sich auch genauso gut andersherum deuten. Könnte nicht der Mörder (wenn es tatsächlich der Mörder gewesen war) dieses Datum gewählt haben, damit es so aussah, als hätte er auch von woandersher kommen können, obwohl er tatsächlich zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus beschäftigt gewesen war?

      Außerdem arbeiteten sie sich immer noch durch die weitaus längere Liste der Ärzte, die zum fraglichen Zeitpunkt in den anderen örtlichen Krankenhäusern turnusmäßig gewechselt hatten.

      Jeremy Bishops Name war der zweite auf der Liste.

      Thorne bemerkte das, was nur als einfältiges Grinsen auf Hollands Gesicht beschrieben werden konnte, als sie im Fahrstuhl zum Parkplatz hinunterfuhren. »Ist er nicht der Freund von Dr. Coburn?«

      »Sie kennt ihn, ja. Und sein Alibi ist theoretisch wasserdicht, ja.«

      Jeremy Bishop war der Arzt, der Alison Willetts bei ihrer Einlieferung in der Notaufnahme behandelt hatte.

      »Aber Alison wurde aus einem bestimmten Grund ins Royal London eingeliefert«, erklärte Thorne, als würde er mit einem Kind sprechen. »Ich möchte genau überprüfen, wann Bishop seinen Dienst angetreten hat und wann sie eingeliefert wurde.«

      Holland grinste weiterhin. Er wusste über Thornes Besuch am Queen Square Bescheid. Aber nicht, ob er Alison Willetts oder die behandelnde Ärztin besuchte. Er war sich sehr wohl bewusst, dass sich die Sache mit Bishop mit einem Anruf erledigen lassen könnte.

      Thorne fühlte sich nicht veranlasst, Holland gegenüber eine Erklärung abzugeben. Als sie im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl stiegen und zum Auto gingen, versuchte er, sich zu überzeugen, dass Bishops Freundschaft mit Anne Coburn, über die er mehr nachdachte, als er sollte, nicht der Hauptgrund war, warum er Bishop bezüglich der Ermittlungen so schnell wie möglich abhaken wollte.

      Während er sein spätes Frühstück verdrückte, dachte er darüber nach, wie müde Thorne um acht Uhr an diesem Morgen ausgesehen hatte, als er zur Arbeit gekommen war. Er hatte von dem schmierigen Schnellimbiss gegenüber beobachtet, wie Thorne sich einen Augenblick gegen sein Auto gelehnt hatte, bevor er schwerfällig zur Tür gestapft war. Es hatte ihn gefreut, dass Thorne an dem Fall arbeitete. Er hatte Thorne nicht als schwerfälligen Typ eingeschätzt. Thorne, so dachte er, war hartnäckig eigensinnig und fast schon zu clever. Dies waren Eigenschaften, die er benötigte. Alles in allem war Thorne perfekt. Aber es hatte ihm Sorgen gemacht, dass Thorne so fertig ausgesehen hatte. Er hoffte, dass die Müdigkeit nur physischer Natur und der Detective Inspector nicht ausgebrannt war. Sie hatten das Mädchen schnell gefunden. Er war beeindruckt. Deswegen hatte Thorne eine harte Nacht hinter sich. Er auch.

      Eins zu fünf. Von fünfundzwanzig auf zwanzig Prozent abgerutscht. Er hatte den notwendigen Telefonanruf erledigt und sich dann seiner Aufgabe gewidmet, aber innerhalb einer Minute war klar gewesen, dass sie ihn im Stich lassen würde. Diese betrunkene, dumme Ziege. Sein Herz war wegen der bevorstehenden eiligen Fahrt ins Krankenhaus, um die Nächste an die Geräte anschließen zu lassen, gerast, dann aber rasch wieder in seinen üblichen gleichmäßigen Takt verfallen. Ihr nutzloses, mit Cholesterin voll gepumptes Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Was für eine Gelegenheit er ihr geboten hatte! Aber sie hatte ihr trauriges, dummes kleines Leben verebben lassen. Oh, mit ziemlicher Sicherheit war er dabei beobachtet worden, wie er sich dieses Mädchens entledigt hatte. Es würde bereits irgendeine Beschreibung geben. Vielleicht hatte man sogar das Auto gesehen. Umso besser.

      Er kaute auf seinem Toast und blickte aus dem Fenster quer über London. Der Nebel hob sich bereits, und es würde wieder herrliches Wetter geben. Helen war so leicht vorzubereiten gewesen wie die anderen. Leichter sogar. Er wurde dabei immer besser. Zuvor hatte es ein paar verheerende Versuche gegeben, doch jetzt ging er entspannter an die Sache ran.

      Christine