Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Billingham
Издательство: Bookwire
Серия: Tom Thorne
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788742820186
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seine Neugier befriedigt war, davontrottete.

      Thorne blickte zu Hendricks. Auch er hatte den Fuchs beobachtet. Thorne atmete tief ein und wandte sich wieder dem Mädchen zu.

      Gefühle, die miteinander in Widerstreit lagen.

      Er empfang Abscheu beim Anblick der Leiche, Wut über die Verschwendung. Mitleid für die Angehörigen und Schrecken angesichts des Gedankens, dass er ihnen, ihrer Wut und ihrer Trauer gegenübertreten musste.

      Aber er spürte auch, wie er innerlich zitterte.

      Die Aufregung angesichts des Tatorts. Direkt vor ihren Augen lag vielleicht das, was ihre Ermittlungen in ungeahnte Bahnen lenken könnte. Es wartete nur darauf, es flehte geradezu, gefunden zu werden.

      Wenn es hier wäre, würde er es finden.

      Ihre Leiche ...

      In ihren langen braunen Haaren hatten sich Blätter verfangen. Ihre Augen waren geöffnet. Thorne sah, dass sie eine hübsche Figur hatte, versuchte aber, den Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.

      »Er hat sich doch vorher immer Zeit gelassen, oder?«, grübelte Hendricks. »Alles hübsch arrangiert. Sich die Mühe gemacht, sie hinzulegen, als hätte sie beim Fernsehen oder Kochen der Schlag getroffen. Diesmal hat er sich offenbar keine Mühe gegeben. Irgendwie scheint er in Eile gewesen zu sein.«

      Thorne blickte ihn fragend an.

      »Eine, höchstens zwei Stunden. Sie ist noch nicht einmal kalt.«

      Thorne beugte sich nach unten und ergriff die Hand des Mädchens. Hendricks nahm die OP-Haube vom Kopf und zog sich die Gummihandschuhe aus. Als sich Thorne vorbeugte, um dem Mädchen die Augen zu schließen, dröhnte das Summen des Generators in seinem Kopf. Hendricks’ Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm durchzudringen.

      »Ich kann immer noch das Karbol riechen.«

      Anne Coburn saß in einem dunklen Zimmer, am Ende eines furchtbaren Arbeitstages, der laut Vorschrift schon drei Stunden zuvor hätte enden sollen. In den Zeitungen wurde ständig über die unzumutbaren Überstunden von Assistenzärzten berichtet, doch Stationsärzte hatten es weiß Gott auch nicht leicht. Ein Treffen mit dem Verwalter, das eine Stunde hätte dauern sollen, aber erst nach drei Stunden zu Ende gewesen war, hatte ihr Kopfschmerzen bereitet, die erst jetzt langsam nachließen. Zwei Vorlesungen, eine Visite, einen Streit mit dem Krankenhausverwalter und einen riesigen Papierberg hatten sie schon überlebt. Und David befand sich immer noch auf dem Kriegspfad ...

      Sie lehnte sich zurück und massierte ihre Schläfen. Mein Gott, waren diese Stühle unbequem. Waren sie etwa mit Absicht so gemacht worden, damit Besucher schnell wieder verschwanden?

      Wenn David noch zu Hause wohnen würde, hätte sie den Papierkram vielleicht liegen lassen, doch jetzt war das anders. Im Haus würde es ruhig sein. Rachel würde schon im Bett liegen und sich auf MTV irgendein ausgemergeltes Drogenopfer mit zu viel Eyeliner anschauen.

      Eine Weile dachte sie über ihre Tochter nach.

      In letzter Zeit waren sie nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Die Abschlussprüfungen hatten sie beide zu sehr unter Stress gesetzt. Rachel ließ, nachdem sie sich derart abgerackert hatte, nur etwas Dampf ab, das war alles. Anne hatte sich entschlossen, ihr nach Bekanntgabe der Ergebnisse ein Geschenk zu kaufen — als Anerkennung für die harte Arbeit. Einen neuen Computer vielleicht. Jetzt überlegte sie stattdessen, ihn schon vorher zu kaufen.

      Dann dachte sie an Tom Thorne.

      Sie blickte zu den Blumen, die er mitgebracht hatte, und lächelte, als sie sich erinnerte, wie er sich bei Alison dafür entschuldigt hatte, dass er ... was für ein Wort hatte er verwendet? Genau, dass er gemüffelt hatte. Es war nicht schwer, ihn attraktiv zu finden. Vielleicht hatte sie ein paar Jahre mehr auf dem Buckel als er, aber instinktiv wusste sie, dass er nicht der Typ war, der sich darüber Gedanken machte. Er war stämmig. Nein ... stabil. Er sah aus, als sei er schon oft um die Häuser gezogen, und entsprach dem Typ Mann, von dem sie sich seit dem Zeitpunkt angezogen fühlte, ab dem die Geschichte mit David den Bach runterging — und das hatte schon vor vielen Jahren angefangen, wenn sie ehrlich war.

      Es war komisch, dass Thorne auf der linken Seite mehr graue Haare hatte als rechts. Außerdem hatte sie braune Augen schon immer gemocht.

      Anne war sich plötzlich bewusst, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. Die nächtlichen Gespräche mit Alison wurden zur Routine. Die Krankenschwestern waren es gewohnt, sie mitten in der Nacht plappernd anzutreffen. Mit der Zeit hatte sie sich immer mehr darauf gefreut, mit Alison zu reden. Die Beschäftigung mit Alisons Gehirn war wesentlicher Bestandteil der Behandlung, doch für Anne war es auch eine therapeutische Angelegenheit. Es war seltsam und aufregend, das eigene Seelenleben auszubreiten, ohne ... beurteilt zu werden. Es war eine Art Beichte. Nun, vielleicht wurde sie von Alison ja doch beurteilt. Möglicherweise dachte sie: »Vergiss den mürrischen Bullen! Angle dir einen jungen, knackigen Medizinstudenten!«

      Eines Tages würde Anne genau herausfinden, was Alison dachte. Doch in diesem Moment wurde sie vom Summen der Maschinen ganz schläfrig. Sie erhob sich, griff zu einem Fläschchen und drückte vorsichtig die Befeuchtungstropfen in Alisons Augen. Dann zog sie ihre Jacke aus, knäulte sie zusammen und legte sie unter ihren Kopf, als sie sich wieder setzte. Mit geschlossenen Augen wünschte sie Alison eine gute Nacht und war sofort eingeschlafen.

      Um halb acht am nächsten Morgen war die Leiche offiziell identifiziert. Helen Doyles Eltern hatten etwa zum selben Zeitpunkt gemeldet, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen sei, als George Hammond zusah, wie sie über das Geländer in Queens Wood purzelte. Wenige Stunden nach diesem ersten besorgten Anruf lehnte Thorne an einer Wand und sah ihnen hinterher, wie sie langsam den Flur entlanggingen und das Leichenschauhaus verließen. Michael Doyle schluchzte. Seine Frau Eileen blickte starr geradeaus und drückte den Arm ihres Mannes. Sie gingen über die Steinstufen hinunter ins Freie, wo sie von dem strahlenden, frischen und völlig gewöhnlichen Morgen ihres ersten Tages ohne Tochter begrüßt wurden.

      Jetzt lehnte Thorne an einer anderen Wand. Die tote Helen hatte ihren Platz neben den anderen eingenommen. Sie hatte noch nichts gesagt, aber das war nur eine Frage der Zeit. Etwa vierzig Beamte und weitere Hilfskräfte warteten darauf, dass Thorne zu ihnen sprach. Wie immer fühlte er sich wie der schlecht gekleidete stellvertretende Direktor einer heruntergekommenen Gesamtschule. Seine Zuhörer erzählten sich langweilige Witze oder machten zotige Bemerkungen. Die wenigen Frauen im Team saßen beisammen und ließen den Sexismus ihrer Kollegen an sich abprallen. Die Rauchschwaden von mehr als einem Dutzend Zigaretten sammelten sich unterhalb der Deckenbeleuchtung. Thorne hatte das Gefühl, als würde er noch immer ein Päckchen Zigaretten am Tag rauchen.

      »Die Leiche von Helen Doyle wurde heute Morgen kurz nach halb zwei in Queens Wood in Highgate entdeckt. Sie wurde das letzte Mal gesehen, als sie das Marlborough Arms auf der Holloway Road um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn verließ. Die Autopsie wird heute Vormittag durchgeführt, aber bis jetzt gehen wir von der Annahme aus, dass sie von demselben Mann getötet wurde, der für den Tod von Christine Owen, Madeleine Vickery und Susan Carlish verantwortlich ist ... «

      Die toten Mädchen: »Oh, komm schon, Tom, du weißt, dass er es war.«

      » ... ebenso wie für den versuchten Mord an Alison Willetts.«

      Aber es war doch gar kein versuchter Mord, oder? Der Mörder versuchte eigentlich, etwas ganz anderes zu erreichen. Thorne wusste nicht, welches Wort er dafür verwenden sollte. Möglicherweise musste man erst eins erfinden, falls man diesen Kerl jemals schnappen sollte. Er räusperte sich und fuhr fort:

      »George Hammond, der die Leiche entdeckte, gab uns eine vage Beschreibung des Mannes, der die Leiche aus seinem Wagen gezogen und übers Geländer geworfen hat. Einsfünfundachtzig bis einsachtundachtzig, mittlere Statur. Wahrscheinlich dunkles Haar. Vielleicht Brille. Bei dem Auto handelt es sich um eine blaue oder vielleicht schwarze Limousine, Fabrikat und Modell sind unklar. Das Opfer wurde irgendwo auf dem nur wenige hundert Meter langen Weg von dem Pub nach Hause in der Windsor Road entführt. Und zwar etwa zwischen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn und dreiundzwanzig Uhr dreißig. Niemand hat