Zwar wird an jedem Tag von neuem und leichtsinnig der Versuch gemacht, es [das Glück] säuberlich zu definieren. Doch diese kleinen definitorischen Sätzchen, die so duftig und adrett antworten auf die Frage: was ist Glück?, decken sie nur mit ärmlichen Antworten zu. Sie setzen hinter eine lange Geschichte des Nachdenkens – eine kurze Gedankenlosigkeit. […Die lange Reihe der Definitionen zeigt] was alles schon einmal jemand glücklich gemacht hat; wie vielfältig der Mensch Glück hervorgebracht hat. Das eine Glück erhält seine vielen Gesichter von den zahllosen Ursprüngen, aus denen es wuchs. Das große Glück ist wahrscheinlich kein Plural; aber seine Herkunft ist plural. Und alle herrischen, beschränkenden, beschränkten Definitionen: „Glück ist…“, stammen aus dem Irrtum, dass Glück nur auf einem Wege entstehen kann.) (10)
Definitionen, so will uns Marcuse sagen, sind entgegen ihrer Anmutung stets subjektiv und entsprechend relativ auf die Erfahrungen dessen, der sie formuliert hat. So gesehen wäre es redlicher, direkt von diesen Erfahrungen zu erzählen, um so der unhintergehbaren Individualität des Glückserlebens Rechnung zu tragen. Denn solche Zeugnisse sind kostbar, auch wenn sie uns – beziehungsweise gerade weil sie uns – keine allgemeingültigen Sätze zumuten, sondern gelebte Erfahrung vermitteln. Zwar muss hier Marcuses Warnung ernst genommen werden, man könne Gefahr laufen, sich in ein fremdes Glück einzuleben und dabei sein eigenes zu versäumen, doch darf man mit ihm ebenso festhalten, dass „dies vorbildliche Glück nicht gleichgültig“ ist. Es „schenkt zwar kein Rezept, nicht einmal eine Definition. Aber macht Mut zum eigenen Glück; nährt das eigene Talent zum Glück. Und belehrt mich über die Wege, die gangbar, und die Wege, die nicht gangbar sind – zu meinem Glück“ (11).
Verzicht auf Definitionen – Erzählen von Geschichten. Ist es damit wirklich getan? Können wir uns darauf beschränken, wenn uns darum zu tun ist, Sonnenlicht und Blumenglanz des Glücks zurückzugewinnen? Wohl nicht, denn am Ende können Geschichten doch nicht mehr sein als ein Wegweiser, ein Ansporn, eine Aufforderung zum Glück. Sie legen allenfalls Spuren zur Glückseligkeit, ebenso wie jede (brauchbare) Definition eine Spur zu ihr legt. Doch wollen wir diesen Spuren folgen. Denn eben dies ist das Geschäft der Philosophie: dass sie sich anschickt, aus Definitionen und Geschichten, die von dem oder über das infrage stehende Thema vorgetragen werden, ein Gemeinsames zu destillieren, das nicht als Summe oder Extrakt des Vorgetragenen verstanden werden darf, sondern als die Resonanz, die durch Definitionen und Geschichten in unseren Herzen zum Schwingen gebracht wird, weil sie mit der Erfahrung unseres Lebens übereinstimmt. Nur wenn es uns gelingt, diese Resonanz zu vernehmen, werden wir in der Lage sein, uns den ursprünglichen Glanz der Glückseligkeit zu erschließen.
Aus diesen Erwägungen ergeben sich die Abschnitte des geistigen Weges, die in diesem Buch gegangen werden sollen. Am Anfang steht der Versuch, ein wenig Ordnung in unseren Sprachgebrauch zu bringen – uns ein Stück weit über die Konfusion unseres Geredes aufzuklären: Welche Bedeutungen klingen an und schwingen mit, wenn vom Glück die Rede ist? Und wo liegen bereits auf der rein begrifflichen Ebene die Quellen von Missverständnissen und Irrungen? (Kapitel 1)
Diese Fragen verweisen uns auf die Geschichte des Glücks. Wir sollten uns keinen Augenblick darüber täuschen, dass unsere Bilder und Vorstellungen, unsere Assoziationen und Träume vom Glück das Produkt einer Jahrtausende währenden Ideengeschichte sind, in deren Strom wir – ob wir wollen oder nicht – hineingeworfen sind. Um einen freien und unvorbelasteten Zugang zum – eigenen – Glück, zum Glück des eigenen Herzens zu gewinnen, ist es für eine philosophische Lebenskunst unausweichlich, sich über diese Geschichte zu verständigen, um zu entdecken, wie sich in ihrem Verlauf die Konzepte und Theorien des Glücks verändert haben – wie Ursprüngliches entstellt und durch Neuartiges ersetzt wurde. Dabei wird es uns gerade um dieses Ursprüngliche zu tun sein: die Philosophie des antiken Griechenlands, hat diese doch gegenüber allem, was nach ihr kommt, den unschätzbaren Vorteil, nicht durch eine lange Reihe von begrifflichen Aus- und Umarbeitungen belastet zu sein. In Krisen des europäischen Geistes – und unser (Miss-)Verhältnis zum Glück ist das Symptom einer solchen Krise – hat es sich noch immer als hilfreich erwiesen, den Weg zurück zu den Griechen anzutreten, da sie es sind, die uns den Blick für die Unmittelbarkeit unseres Lebens lehren können. (Kapitel 2)
Die alte griechische Theorie vom Glück führt uns auf das Gemeinsame, das Menschliche, das Geheimnisvolle unseres eigenen Herzens, das es nun zu Bewusstsein zu bringen gilt. Im dritten Abschnitt wird es darum gehen, anhand dreier ausgewählter literarischer Glücksbeschreibungen die erarbeiteten Kennzeichen der Glückseligkeit mit menschlichen Glückserfahrungen abzugleichen. (Kapitel 3)
Damit sind wir gut vorbereitet, um uns die Frage zu stellen, die wohl allen unter den Nägeln brennt: Wie wird man glücklich? Die Antwort erfolgt in drei Anläufen: Zunächst, indem wir uns vier gängige und Erfolg versprechende Lebensmodelle anschauen, die den Anspruch erheben, uns Menschen zum Glück zu geleiten: Paideía und Bildung, Ästhetik und Kunst, philosophische Lebenskunst und Mystik. (Kapitel 4)
Dabei wird sich zeigen, dass sie alle – bei allen unbestreitbaren Verdiensten – am Ende allein für sich nicht befriedigen können. Deshalb werden wir neuerlich eine Anleihe bei den alten Griechen machen und eine Lebensform anschauen, die sich mit dem Namen des Eros verbindet und sich daher trefflich als erotische Lebenskunst bezeichnen lässt – allerdings nur, wenn man sich aller modernen Assoziationen enthält, die den Namen des Eros entstellt und in Misskredit gebracht haben. (Kapitel 5) Und im Schlusskapitel (Kapitel 6) wird diese erotischen Lebenskunst mit einigen praktischen und konkreten Anwendungsbeispielen angereichert werden.
Auf diesem Weg, liebe Leserin und lieber Leser, sind Sie selbst gefordert. Wichtiger als das geschriebene Wort ist Ihr Mit- und Nachdenken – ist, dass Sie das Gelesene im Herzen bewegen und immer wieder zu Ihrer Lebenswirklichkeit in Bezug setzen. So sind Sie Gesprächspartner/-in und Mitautor/-in in einem. Lassen Sie uns nun gemeinsam aufbrechen.
1. Beate, Felicitas, Fortuna Drei Damen, die das Glück bedeuten
Was ist Glück? – fragen wir noch einmal diese Frage aller Fragen. Aber fragen wir sie richtig! Fragen wir aus der Mitte unseres Herzens, in dessen Tiefe die Antwort verborgen ist, die wir ihm doch erst über den Umweg des Denkens abringen müssen. Machen wir uns frei von allen fertigen und vorgefertigten Antworten, die uns auf der Zunge liegen und in denen wir so gerne von unseren Ratgebern und Lehrern bestätigt werden wollen. Fragen wir ins Offene, auch wenn das bedeutet, dass wir uns dabei selbst in Frage stellen lassen müssen. Fragen ist nicht nur, wie Heidegger sagte, die „Frömmigkeit des Denkens“ (12), Fragen ist überhaupt der Anfang aller Philosophie. Denn Fragen öffnet – und nur wer offen ist, kann Erfüllung finden. Fragen wir also mit dem depressiven Fuchs aus Selma, fragen