Jutta Bauers Büchlein wurde ein Bestseller. Groß ist offenbar die Zahl derer, die sich mit dem rat- und rastlos nach Glück suchenden Fuchs identifizieren. Und groß ist die Zahl derer, die von dem einfachen Glück des Schafes Selma träumen – und doch nicht glücklich sind. Tatsächlich nämlich belehren uns Sozialwissenschaftler und Statistiker darüber, dass unsere an materiellen Gütern reiche und freie westliche Welt im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen eine Region mit einem außergewöhnlich niedrigen Glücksquotienten ist – ganz anders als materiell arme Länder wie Bhutan oder Bangladesch, deren Einwohner sich weit häufiger als glücklich erleben. Irgendwie scheint es mit dem Glück schwieriger zu sein, als uns die reizende Geschichte von Selma, dem wunschlosen Schaf, glauben machen möchte.
Kein Wunder daher, wenn in unseren Breiten das Geschäft mit dem Glück boomt. Jedenfalls steht in eigentümlichem Kontrast zu der vom großen Widder propagierten Einfachheit des Glücks eine nicht mehr zu überblickende Vielfalt von Traktaten, Ratgebern und Abhandlungen über das Glück. Und das nicht erst seit gestern: Von dem römischen Autor Varro wissen wir, dass zu seiner Zeit bereits 288 verschiedene Lehrmeinungen über das Glück existierten (2), und allein aus der Zeit der französischen Aufklärung sind mehr als 50 selbstständige Traktate über das Glück überliefert (3). Doch dies alles hält die Menschen der westlichen Welt nicht davon ab, sich mit neuer und besonderer Verve des Glücks anzunehmen. Der literarische Erfolg von Selma ist nur ein besonders prägnantes Beispiel für die anhaltende Hochkonjunktur des Glücks. Nicht nur Kinderbuch und BILD-Zeitung („Das Glück kam mit dem Alter“) haben sich des Themas angenommen, auch Spiritualität, Philosophie und Wissenschaft scheuen sich nicht mehr, dem Glücke nachzujagen: So rangierte lange Zeit Der Weg zum Glück (4) des Dalai-Lama auf den obersten Plätzen der Bestseller-Charts, mit seiner Philosophie der Lebenskunst(5) gelang es dem Philosophen Wilhelm Schmid in den 1990er-Jahren, das Nachdenken über das Glück akademisch wieder hoffähig zu machen, und im Grenzland zwischen Psychologie und Neurophysiologie hat sich derweil eine eigene empirische Glückswissenschaft etabliert(6), die präzis zu beschreiben beansprucht, was mit uns geschieht, wenn wir glücklich sind. Nur: Was Glück wesentlich ist und wie wir am Ende wirklich glücklich werden – das kann auch sie uns nicht sagen. Und so stehen denn zeitgenössische Glückssehnsucht, Glücksverheißung und Glückserfahrung in einem merkwürdigen Missverhältnis.
Solche Merkwürdigkeiten laden zum Nachdenken ein. Und allein deshalb scheint es angezeigt, dem Reigen der Glücksbücher ein weiteres hinzuzufügen – eines, das der Sorge entwächst, die Konjunktur des Glücks könnte sich bei näherer Betrachtung als Inflation erweisen: als Korruption, in deren Folge das Glück erst banalisiert und dann entwertet wird. Denn: Wer vermag noch, den Reichtum und die Tiefe des Wortes Glück zu erahnen, wenn jeder Zigarettenautomat die fahle Parole: „Rauchen macht glücklich“ ausgibt? Wer spürt noch den Zauber und die Verheißung dieser fünf Buchstaben, wenn das Glück als erwerbbare Ware auf dem Marktplatz feilgeboten wird? Wer hat noch den Sinn und das Gespür eines Hermann Hesse, aus dessen Feder die wohl schönste Meditation über das Wort Glück stammt:
Glück. Es ist eins von den Wörtern, die ich immer geliebt und gern gehört habe. Mochte man über seine Bedeutung noch so viel streiten und räsonieren können, auf jeden Fall bedeutete es etwas Schönes, etwas Gutes und Wünschenswertes. Und dem entsprechend fand ich den Klang des Wortes. Ich fand, dieses Wort habe trotz seiner Kürze etwas erstaunlich Schweres und Volles, etwas, was an Gold erinnerte, und richtig war ihm außer der Fülle und Vollwichtigkeit auch der Glanz eigen, wie der Blitz in der Wolke wohnte er in der kurzen Silbe, die so schmelzend und lächelnd mit dem GL begann, im Ü so lachend ruhte und so kurz, und im CK so entschlossen und knapp endete. Es war ein Wort zum Lachen und Weinen, ein Wort voll Urzauber und Sinnlichkeit; wenn man es recht empfinden wollte, brauchte man nur ein spätes, flaches, müdes Nickel- oder Kupferwort neben das goldene zu stellen, etwa Gegebenheit oder Nutzbarmachung, dann war alles klar. Kein Zweifel, es kam nicht aus Wörterbüchern und Schulstuben, es war nicht erdacht, abgeleitet oder zusammengesetzt, es war Eins und rund, war vollkommen, es kam aus dem Himmel oder aus der Erde wie Sonnenlicht und Blumenblick.(7)
Sonnenlicht und Blumenblick – nicht erdacht und nicht erfunden: Glück ist ein Wort, das aus dem Herzen kommt, ein Wort das mit dem Herzen gehört und mit dem Herzen verstanden sein will. Wenn wir uns auf den folgenden Seiten anschicken, über das Glück nachzudenken, dann mit dieser Zielrichtung: dem Glück seinen Zauber zurückzugeben, diese zarte und empfindliche Pflanze vor Inflation und Vermarktung zu schützen, um ihr dann einen Ort in der Mitte des Lebens zu geben.
Aber um dorthin zu gelangen, ist es zunächst wichtig, sich von den Bildern und Konzepten zu befreien, die das Glück entstellt und seine Kommerzialisierung möglich gemacht haben – denn ob wir wollen oder nicht: immer sitzen uns Bilder und Verheißungen, Ideen und Ideologien wie Brillengläser auf der Nase und verzerren unseren Blick auf das Leben. So lässt sich häufig beobachten, dass eine bestimmte Idee vom Glück, ein bestimmtes Bild, das uns von irgendwoher zugeflogen ist und mit dem wir uns – warum auch immer – identifizieren, uns von unserem Glück abhält: weil wir uns eine Idee zum Maßstab nehmen, die nicht unsere ist, die nicht unserem Herzen erwächst, sondern die gedacht, konzipiert, proklamiert worden und deren Saat mit den Winden der Ideengeschichte dem Garten unserer Seele zugeflogen ist, wo sie sich nunmehr zu wuchern anschickt. Da haben sich Ideen eingenistet, die uns gänzlich überfordern: die uns ein Glück in Aussicht stellen, das nicht das Glück von Menschen, sondern die Seligkeit von Göttern (oder auch von Schafen) ist. Wo solche Ideen sich um unser Leben ranken, verschatten sie jeden Sonnenglanz: Selbst wo wir glücklich sein könnten, sind wir es doch nicht, da wir Maßstäben und Kriterien folgen, die in Wahrheit gerade nicht unsere Maßstäbe und Kriterien sind. Andererseits gedeihen im Garten der Seele ebenso Konzepte, die viel zu kurz greifen: Glücksverheißungen, die leicht erreicht werden, die aber nie einlösen, was sie versprechen (etwa: „Einfach glücklich sein. Jetzt“) und daher stets durch neue, ebenso billige Konzepte ersetzt werden können. Nein, wir müssen zunächst Unkraut jäten, bevor Blumenblick und Sonnenglanz des Glücks unser Herz erleuchten können; wir müssen Ideen kultivieren, die unserem Herzen und Leben entsprechen: die uns das rechte Maß geben.
Und hier ist die Philosophie gefragt. Denn deren Geschäft ist es seit Sokrates, uns in der alltäglichen Gedankenlosigkeit zu erschüttern, mit der wir die Zauberworte und Wahrheiten des Lebens daher plappern und uns dabei zumeist auch noch einbilden zu wissen, wovon die Rede ist. Das Gerede – wie Martin Heidegger unser achtloses und seichtes Alltagsbewusstsein nannte –ist eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem erfüllten, eigentlichen und glücklichen Leben.
Dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, war der erste und wichtigste Schritt der philosophischen Gesprächskunst des Sokrates, dieses Meisters einer „wissenden Unwissenheit“, deren Wahlspruch lautet: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“. Zu den Erfahrungen des Sokrates gehörte freilich auch, dass man sich keineswegs Freunde damit macht, Menschen in ihrem Alltagsbewusstsein zu erschüttern – vor allem dann nicht, wenn man sie in ihrem Verständnis gerade derjenigen Konzepte erschüttert, mit denen sie sich identifizieren, auf denen sie ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl bauen. Glück ist ein solches Konzept. Wer Menschen in ihrem Verständnis vom Glück in Frage stellt, läuft Gefahr, Hass und Ablehnung zu ernten. Sokrates wurde zum Tode verurteilt.
Nun steht dies in unseren Tagen – Gott sei Dank – nicht mehr zu erwarten, und so machen wir uns frohgemut daran, die Philosophie – im Sinne des Sokrates – als einen geistigen Weg wiederzuentdecken: als Weg zu einem in sich stimmigen, gelingenden, glücklichen Leben – als Weg zum großen Glück. Es geht auf diesem Weg weder darum, neues Wissen anzusammeln, noch wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis zu gewinnen. Es geht darum, die Oberfläche unseres alltäglichen Geredes zu durchstoßen, in die Tiefe zu gehen, um dort die Weisheit freizusetzen und zuzulassen, die in unseren Herzen immer schon da ist. Und es geht darum, dieser Weisheit Ausdruck zu verleihen, ohne sie dabei sogleich wieder zu banalisieren, trivialisieren, korrumpieren. Es geht darum, vom Glück zu reden, ohne dabei dem Gerede zu verfallen. Aus eben diesem Grunde trägt dieses Buch nicht den Untertitel: Eine Philosophie des Glücks, sondern: Eine Philosophie der Glückseligkeit.