WattenAngst. Andreas Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Schmidt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783827184030
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der Leitung. „Dann werd ich mal den ganzen Apparat in Bewegung setzen.“

      „Suchhunde, wieder der Hubschrauber und eine Wärmebildkamera“, stimmte Wiebke ihm zu. „Und sieh mal zu, wie schnell wir eine Hundertschaft von der Bereitschaftspolizei bekommen. Und ich brauche eine Handyortung, die Nummer schicke ich dir gleich. Kannst du das veranlassen?“

      „Wird gemacht, Christensen kann schon mal mit dem Staatsanwalt telefonieren wegen der Anordnung. Kommst du gleich rein?“

      „Bin schon auf dem Weg.“ Wiebke unterbrach die Verbindung, dann wählte sie die Nummer von Sven Gerissen. Erwartungsgemäß meldete sich nach drei Freizeichen die freundlich klingelnde Stimme eines jungen Mannes, der dem Anrufer beschied, nicht anwesend zu sein, aber wer mochte, konnte ihm eine Nachricht hinterlassen.

      Wiebke mochte nicht. An einer roten Ampel tickerte sie Petersen eine WhatsApp, dass sie etwas später zum Polizeirevier komme, dann machte sie einen kleinen Umweg zum Industriegebiet.

      ELF

      Bundesstraße 201 Richtung Husum

      Er hatte alles gut vorbereitet. Im Nachhinein ärgerte er sich darüber, dass er sie vor Ort entkleidet und die Sachen nur halbherzig entsorgt hatte. Doch es konnte nur besser werden. Ein teuflisches Grinsen schlich um seine Mundwinkel, als er das Smartphone in den Ruhestand versetzte und in die Ablage im Armaturenbrett legte. Diese kleinen digitalen Zauberkästen waren ein Segen. Sie erleichterten ihm die Arbeit auf seiner Mission.

      Er fand, wonach er suchte.

      Immer und überall.

      Als er den Motor startete, konnte er nicht gleich losfahren. Bei dem kurzen Stopp waren die Scheiben beschlagen. So ließ er den Diesel einen Moment im Leerlauf tuckern und schaltete das Gebläse auf volle Leistung. Er nutzte die Zeit, um den nächsten Schritt zu planen. Sein nächstes Opfer stand bereits fest.

      Als er freie Sicht hatte, drosselte er die Leistung des Gebläses, legte einen Gang ein und fuhr langsam vom Parkplatz herunter. Die Fahrt nach Husum dauerte keine zwanzig Minuten. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett sagte ihm, dass er gut in der Zeit war. Alles lief nach Plan.

      Er würde die Zeit für einen kleinen Spaziergang durch die graue Stadt am Meer nutzen. Der Lesestoff war ihm ausgegangen. Ohne Buch fühlte er sich unvollständig. Gleich würde er sich in der Buchhandlung mit Nachschub versorgen. Und ihr dabei einen kleinen Besuch abstatten.

      Er atmete tief durch, als er das Seitenfenster einen Spaltbreit öffnete und die frische Luft tief in die Lungen einsog. Der Wind trieb graue, unheilvolle Wolken ins Landesinnere und tauchte das flache Land links und rechts der Straße in ein bizarres Licht. Nordfriesland war seine Heimat, hier fühlte er sich wohl. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen lauschte er der leisen Musik aus dem Autoradio und summte mit. Als er Husum erreichte, spürte er eine undefinierbare Spannung in sich aufsteigen.

      Er hatte Glück und fand einen Parkplatz an der Deichstraße. Ein kühler Wind fegte ins Landesinnere, immerhin hatte der fiese Herbstregen nachgelassen. Er warf eine Münze in den Parkscheinautomaten und löste das Ticket, um es hinter die große Windschutzscheibe zu klemmen. Ein Strafzettel wäre jetzt fatal, denn es galt, nicht aufzufallen in der Masse. Nachdem er sich gründlich versichert hatte, den Wagen abgeschlossen zu haben, zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch, setzte die Pudelmütze auf, versenkte die Hände in den Taschen seiner Jeans und schlenderte am Fischhaus Loof vorbei über die Hafenstraße in Richtung Innenstadt. Ein Lieferwagen parkte vor dem Kulturspeicher. Zwei Männer in Overalls entluden Kisten und schleppten sie in das alte Gebäude. Sie schenkten ihm keine Beachtung. Um diese Zeit herrschte nicht allzu viel Betrieb in der grauen Stadt am Meer. Es war keine Saison, die bunt gekleideten Touristen, die Husum im Sommer bevölkerten, waren im Alltag gefangen und gingen ihren Berufen nach. Er atmete tief durch. Eigentlich ging es ihm gut. Er lebte dort, wo andere Urlaub machten. Er war sein eigener Chef und hatte sein Leben fest in der Hand. Lange war das nicht der Fall gewesen, doch er war gerade im Begriff, die Schieflage wieder zu richten. Und der Anfang war gemacht.

      Als er Hunger verspürte, überlegte er, wo er zu Mittag einkehren konnte. An Kneipen, Bars und Restaurants mangelte es nicht. Er entschied sich für einen Abstecher auf das Restaurantschiff „Nordertor“, das seit einigen Jahren unter neuer Flagge an seinem Standort im Binnenhafen lag. Claude Bruhn, der kultige Kapitän, war vor Längerem schon von Bord gegangen, um den wohlverdienten Ruhestand zu genießen. Touristen und waschechte Nordfriesen hatten ihm lange hinterhergetrauert. Claudes Nachfolger führten die alte Tradition auf dem ehemaligen Fahrgastschiff fort, hatten frischen Wind in die Institution gebracht, ohne dem Konzept des Restaurantschiffes untreu zu werden.

      Ohne Eile nahm er die leicht schwankende Gangway und fand sich im Vorderdeck des alten Schiffes wieder. Eine kleine Tür führte in den Gastraum, er musste den Kopf einziehen, um sich nicht zu stoßen. Drinnen schlug ihm eine wohlige Wärme entgegen, als er sich an einen freien Tisch setzte, von dem aus er den Blick auf das Hafenbecken und den Tonnenleger „Hildegard“, der als Touristenattraktion seit vielen Jahren auf der stillgelegten Slipanlage vor dem Rathaus ruhte, genießen konnte.

      Im Innern der „Nordertor“ herrschte nicht viel Betrieb, und so dauerte es nicht lange, bis ihm die Bedienung die Speisekarte brachte und er eine Apfelschorle bestellte. Eher desinteressiert blätterte er durch die Karte und entschied sich schließlich für eine Portion Backfisch im Bierteig und Bratkartoffeln.

      Die Bedienung brachte ihm die Apfelschorle. Er bedankte sich höflich, erwischte sich dabei, der jungen Frau im Weggehen auf den Hintern zu starren, und trank einen Schluck. Dann setzte er das Glas auf dem Untersetzer ab. Schließlich wollte er keine unansehnlichen Ränder auf der Tischdecke hinterlassen.

      Während er auf das Essen wartete, das in Deutschlands wohl kleinster Restaurantküche zubereitet wurde, zog er sein Smartphone aus der Tasche und stöberte ein wenig in den sozialen Netzwerken. Dann fand er ihr Foto. Er spürte, wie sich sein Herzschlag bei ihrem Anblick beschleunigte. Es schien, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Da waren diese Vertrautheit, dieses angenehme Lächeln und die Grübchen in ihrem Gesicht, wenn sie lachte. Dass er selber lächelte, bemerkte er nicht.

      Bald gehörst du mir. Fast zärtlich strich seine Daumenkuppe über eines ihrer zahlreichen Bilder im Netz.

      „So“, riss ihn die Stimme der jungen Kellnerin aus den Gedanken. „Einmal Backfisch und Bratkartoffeln.“

      Schnell ließ er das Handy verschwinden und betrachtete das Essen. Erst jetzt spürte er, wie sein Magen knurrte. Höchste Zeit, dass er sich eine warme Mahlzeit gönnte. Hungrig rollte er das Besteck aus der Serviette und machte sich über den Fisch her. Gleich nach dem Essen würde er sie aufsuchen.

      Ich habe eine gute Auswahl getroffen, dachte er zufrieden, als ihr Lächeln wieder vor seinem geistigen Auge auftauchte.

      Und damit meinte er nicht das Essen, sondern sein nächstes Opfer. Bald schon würde er sie sich holen. Doch ein paar Stunden musste er sich noch gedulden.

      *

      Husum, Autohaus Reiners, 11.50 Uhr

      Es roch nach Reifen und Polierwachs. Der Verkaufsraum mit großer Fensterfront zur Flensburger Chaussee war vollgestellt mit den Neuwagen, die der Hersteller auf der letzten Automobilmesse in Frankfurt erst präsentiert hatte. Auf Plakaten warb man mit „satten Rabatten“ und günstigen Finanzierungen für den Kauf eines neuen Autos. Wiebke schlenderte durch die Reihen der blitzblanken Fahrzeuge und schielte unauffällig zu den gläsernen Büros im hinteren Bereich der Neuwagenausstellung.

      Für Wiebke war ein Auto nichts als ein Fortbewegungsmittel, mit dem man – je nach Modell – mehr oder weniger komfortabel von A nach B kam. Sie verstand nicht, dass ein Auto für viele Mitmenschen ein Statussymbol war. Genauso wenig wie sie die Leute verstand, die samstagvormittags Stunden damit verbrachten, den fahrbaren Untersatz zu putzen und zu polieren.

      „Kann ich Ihnen helfen?“ Die freundliche Stimme riss Wiebke aus den Überlegungen. Ohne sich umzudrehen, erkannte sie die Stimme des Mannes, die sie eben schon auf dem Anrufbeantworter gehört hatte. Hinter ihr stand der