Die Geldkassette, ich hoffe, ich finde sie problemlos.
Kilian streifte sich die Handschuhe über (falls doch später die Polizei ins Spiel kam) und öffnete vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer, das neben dem Bad lag. Luisa und ihre Oma unterhielten sich in der Küche.
Die Frau ist alt und hat mehr Geld, als sie braucht, rechtfertigte er sich in Gedanken. Das Erbe ihres Mannes und die monatlichen Einnahmen ihrer vermieteten Wohnungen. Ich brauch es umso mehr. Und sie merkt nicht, wenn was fehlt.
Er betrat das Schlafzimmer, in dem noch immer ein Doppelbett stand. Zum Fußende eine Schrankwand im Stil der Siebzigerjahre.
Hier sollte ich eigentlich fündig werden.
Er öffnete die Schranktüren.
Wo ist die verdammte Geldkassette?!
Auf keinen Fall durfte er im Schrank Unordnung verursachen, sonst schöpfte die Alte sofort Verdacht.
Dauert länger als gedacht!
Von unten rief Luisa: „Hast du alles, Kilian, kommst du klar?“
Sie darf auf keinen Fall raufkommen!
„Alles in Ordnung!“, antwortete er. „Keine Probleme!“
Er musste sich beeilen. Die Deckenlampe im Bad wartete noch auf ihn. Im letzten Teil der Schrankwand entdeckte er die Geldkassette hinter mehreren Stapeln Handtüchern. Eine simple graue Metallkassette mit Deckelgriff, wie man sie in jedem Baumarkt fand – und der Schlüssel steckte wie erwartet.
In der Kassette waren ungefähr 1300 Euro. Davon schob er sich achthundert Euro unter seinen Pullover. Danach brachte er alles wieder in die alte Ordnung.
Die beiden Frauen waren weiterhin in der Küche in ein Gespräch vertieft, wobei Luisa etwas lauter sprach, als sie es sonst tat.
Das Auswechseln der Glühbirnen im Bad ging zum Glück ruckzuck.
Zu Luisa und ihrer Oma sagte er später allerdings: „Hat etwas länger gedauert, weil eine von diesen alten Schrauben an der Lampe nicht richtig mitgespielt hat. Aber ich hab alles erledigt.“
Luisa umarmte und küsste ihn: „Hab ich nicht einen tollen Freund, Oma?!“
Kapitel 8
24 Tage vor der Ermordung von P. R.
Paul war letzten Monat zwanzig geworden. Ein runder Geburtstag, der ihn in eine neue Lebensphase führen sollte. Aber an seiner Lebenssituation und der seiner Familie hatte sich nichts Wesentliches geändert. Nach außen stellte seine Familie etwas Besonderes dar, insbesondere seine Eltern und Noah, sein vier Jahre älterer Bruder. Hinter den Kulissen hatte jeder seine Eigenheiten, die Paul an manchen Tagen zu schaffen machten.
Sein Vater Bodo Stern war ein bekannter Unternehmer, dem eine niedersachsenweite Spielhallen-Kette mit Namen „Glücks-Stern“ gehörte. Privat sammelte er Kinderspielzeug und Modellautos, konnte in seiner (wenigen) Freizeit komplett in die Welt seiner Modelleisenbahn eintauchen.
Ramona Stern, Pauls Mutter, arbeitete Teilzeit als Rechtsanwältin in einer angesehenen hannoverschen Anwaltskanzlei. Seit Jahren hatte sie eine Art „Handy-Phobie“. Sie besaß zwar ein Mobiltelefon, trug es jedoch meistens nur ausgeschaltet mit sich herum. Lediglich im Notfall, zu bestimmten dienstlichen Anlässen oder wenn sie jemanden konkret anrufen wollte, schaltete sie es ein. Ramona lehnte es konsequent ab, immer und überall erreichbar zu sein. Und ihre Umgebung hatte diese konsequente Haltung hinnehmen müssen, was das Leben von Pauls Mutter bis zu einem gewissen Grad entschleunigte.
Noah Stern studierte inzwischen in Göttingen im achten Semester Medizin. Er war ein Chamäleon, das sich stets perfekt den Anforderungen seiner Umgebung anpasste. Besonders seinem Vater hatte er es stets recht machen können, was Paul nie richtig gelungen war.
Paul sah sich selbst als das am weitesten außenstehende Familienmitglied. Er machte verrückte Sachen, an die er sich später nicht erinnern konnte. Ein Ventil, damit umzugehen, waren seine Mystery-Geschichten. Er überlegte, demnächst an einer weiteren Story zu schreiben, seiner dritten.
In der Medizinischen Hochschule Hannover absolvierte er ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr. Dort waren die dissoziativen Zustände bisher nicht aufgetreten. Insofern wussten die Mitarbeiter in der MHH nichts von seinen psychischen Problemen.
Harmonie in der Familie, das hatte für Paul den größten Wert. Und zwar nicht nur für ihn. Paul wusste, dass Harmonie für seine Eltern und Noah den gleichen Stellenwert hatte.
Seine Mutter hatte öfters für ihn gelogen, wenn Paul als Junge etwas angestellt hatte, damit sein Vater nichts davon erfuhr und heftiger Streit ausblieb. Paul wiederum hatte Geheimnisse für seine Mutter bewahrt, um die harmonische Beziehung seiner Eltern nicht zu gefährden.
Seit fünfzehn Jahren lebte er mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem großzügigen Walmdachbungalow mit Einliegerwohnung im hannoverschen Stadtteil Isernhagen-Süd. Wobei sich die Zwei-Zimmer-Einliegerwohnung in einem separaten Teil des Bungalows befand, der vor zehn Jahren neu angebaut worden war. Durch eine Verbindungstür konnte man von einem Teil des Bungalows in den anderen gelangen, dabei verfügte jeder Gebäudeteil über einen eigenen Eingang. In der Einliegerwohnung hatte Oma Ilse, Vaters Mutter, gewohnt. Sie war von ihrem Mann getrennt und litt zunehmend an einer Sehbehinderung. Vor zwei Jahren musste sie wegen einer schweren Demenzerkrankung in ein Pflegeheim umziehen. Danach bekamen Paul und Noah die Zimmer in der Einliegerwohnung, wobei Noah nur noch höchst selten in Hannover war und die meiste Zeit in Göttingen verbrachte, weil er auch außerhalb der Lehrveranstaltungen in einem Göttinger Krankenhaus arbeitete. In Noahs altem Kinderzimmer hatte Vater jetzt dauerhaft seine Modelleisenbahn aufgebaut. In Pauls Kinderzimmer standen Mutters Fitnessgeräte, wie Crosstrainer und Laufband.
Der heutige Sonntag war ein besonderer Tag. Bodo Stern hatte Geburtstag, seinen neunundvierzigsten. Am Nachmittag würde im Haus ein kleiner Empfang für einige wichtige Geschäftspartner, Freunde und Bekannte stattfinden, bei dem sich ein Catering-Service um die Bewirtung kümmerte.
Es war kurz nach acht Uhr morgens. Paul spürte, wie sich das Kribbeln auf seinen ganzen Körper ausdehnte. In seinem Zimmer ging er zum wiederholten Mal von einer Seite zur anderen. Es war so wichtig, dass seinem Vater das Geschenk gefiel. In der Vergangenheit hatte Paul mit seinen Geschenken ein paarmal danebengelegen.
Er muss sich freuen. Diesmal hab ich mir mehr Mühe gegeben.
Übers Internet hatte er ein altes Modellauto der Fima Corgi Toys gekauft. In einem gut erhaltenen Zustand, in dem dieses Modellauto nur noch selten zu bekommen war. Und sogar mit Originalverpackung, die für Sammler so wichtig war.
Papa soll einen schönen Tag verbringen, mit uns, mit mir.
Das gemeinsame Geburtstagsfrühstück mit der Familie im Esszimmerbereich war in knapp zwei Stunden. Pauls Aufgabe bestand darin, die vorbestellten Brötchen vom Bäcker zu holen. Ramona würde den Tisch feierlich decken – und sich quasi um den Rest kümmern. Noah war noch nicht da, er kam mit dem Auto aus Göttingen und würde rechtzeitig am Frühstückstisch sitzen.
Die Übergabe der Geschenke war gegen zehn. Die Spannung war für Paul kaum zu ertragen.
Ich muss eine Spontanprüfung machen, damit er sich über mein Geschenk freut.
Bei wichtigen Vorhaben im Alltag unterzog sich Paul häufig selbst auferlegten Prüfungen. Sein Psychotherapeut hatte sein