„Nein, Frau Dahlmann-Weinberger“, sagte Mockie auf ihre ruhige, aber bestimmte Art, „leider ist Herr Dr. Seifert nicht im Hause, und ich weiß auch nicht, ob er heute noch reinkommt.“
Bei dem Namen „Dahlmann-Weinberger“ spürte ich gleich meinen flauen Magen. Es handelte sich dabei um eine Frau Ende dreißig, mit der ich in den letzten Wochen bereits mehrfach ausführlich telefoniert hatte. Unsere Gespräche drehten sich dabei im Kreis. Die Frau suchte immer wieder Beziehungen zu dem Typ Mann, mit dem sie in ihrer Jugend äußerst schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Die Reinszenierung eines alten Traumas. Dabei lehnte die Frau jegliche Gespräche mit Therapeuten der zuständigen Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle ab. Bei Frau Ende dreißig waren meine Gedanken sofort wieder bei Anna.
Meine Sekretärin legte den Hörer auf und lächelte mich an: „Das ist für heute erledigt.“
„Danke, Mockie, Sie haben mich gerettet. Ein Telefonat mit Frau Dahlmann-Weinberger gleich zu Beginn des Tages hätte ich diesen Freitag nicht durchgehalten.“
Ich ging in mein Büro und hoffte, dass Mockies erfolgreiche Abwehr dieses Telefonats ein gutes Zeichen für den weiteren Tagesverlauf sein würde. Da hatte ich mich leider gründlich geirrt.
Kapitel 4
Philipp Rathing unterbrach die Arbeit am Manuskript seines neuen Buches. An diesem Freitag hatte er ganz früh mit dem Schreiben begonnen.
Der Nachfolge-Roman von „Hannover sehen und lieben“ musste unbedingt wieder ein Bestseller werden, nachdem sich sein vorletztes Buch und das davor leider nur mäßig verkauft hatten. Philipp gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die tatsächlich von ihrem künstlerischen Schaffen recht gut leben konnten. Nebenher schrieb er journalistische Artikel für bundesweit erscheinende Magazine, lektorierte zusätzlich Bücher und Magazine, hatte früher bereits Drehbücher für eine erfolgreiche Fernsehserie verfasst. In seinem aktuellen Manuskript ging es um Flüchtlinge in Deutschland, ein Thema, mit dem er zwar in seinem eigenen Alltag wenig zu tun hatte, das er jedoch als aktuell und zugkräftig einschätzte. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und überflog auf dem Monitor seines PCs die letzten Sätze, die er in die Tastatur getippt hatte. Dann blickte er über den Bildschirm hinweg durchs Fenster. Das Arbeitszimmer lag im ersten Stock seines Hauses.
Übernachtungen von Frauen kamen in dieser Arbeitsphase nicht in Betracht. Seine Konzentration galt von morgens bis abends, manchmal sogar bis spät in die Nacht, ausschließlich dem Buch. Als seine langjährige Lebenspartnerin Melanie und deren Kinder noch hier wohnten, hatte es deswegen öfters Streit gegeben. Ihnen fehlte bisweilen das Verständnis, dass laute Musik, Geschrei oder sonstige Turbulenzen ihn bei seiner Arbeit störten. Ein offenes Ohr für Alltagsprobleme aller Art hatte er hingegen in der Findungsphase für das Thema eines neuen Romans. Seit er die Adventszeit allein in Anderten verbringen musste, verzichtete er im Haus auf jeglichen vorweihnachtlichen Schnickschnack.
Das Haus hatte er vor achtzehn Jahren, zusammen mit seiner drei Jahre später verstorbenen Frau, gekauft. Viele persönliche Erinnerungen an diese Zeit waren mit dem Gebäude verknüpft, in welchem er, allein schon wegen des ansprechenden Gartens (seine zweite Passion neben dem Schreiben!), um jeden Preis wohnen bleiben wollte. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau war Melanie mit ihren beiden kleinen Kindern dort eingezogen. Aber das spielte heute alles keine Rolle.
Am späten Nachmittag vor zwei Tagen hatte ein Mann auf einem Motorrad vor Philipps Grundstück, das in einem ruhigen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern lag, haltgemacht. Der Mann war korpulent, trug schwarze Lederkleidung mit einer Kutte darüber, die vorne und hinten die geschwungene Regenbogenflagge zierte. Vom Fenster hatte Philipp in der einsetzenden Dunkelheit nicht alles genau erkennen können. Aber es konnte sich nur um Ralf Grothe handeln. Der Kerl hatte einen leeren Flachmann in den Garten des Schriftstellers geworfen und irgendetwas gerufen, das Philipp im Haus nur undeutlich verstehen konnte – möglicherweise „blödes Schwein“ oder so. Für die Einschaltung der Polizei reichte der Vorgang nicht aus. Grothe war ein Mitglied der Rainbow-Biker. Die hatten in den vergangenen Monaten mehrfach gegen sein Buch gewettert. Und ihm vermutlich auch die anonymen Mails mit den fiesen Beschimpfungen geschickt, deren Adresse sich nicht zurückverfolgen ließ. Im September, kurz nach Veröffentlichung von „Hannover sehen und lieben“, war Philipps Haustür von Unbekannten mit Hundekot beschmiert worden. Er konnte den Anfeindungen, über die schon mehrfach die Presse berichtet hatte, auch Positives abringen. Sie machten sein Buch für unentschlossene Käufer interessanter.
Zum Einlegen einer Zigarettenpause entschloss er sich, in den Garten zu gehen. Er hatte sich eine Winterjacke angezogen. Es war etwa fünf Grad über null. Die Weihnachtstage würden vermutlich wieder ohne Schnee auskommen müssen. Er ging im Garten auf und ab, was meistens seine Einfälle für die nächsten Passagen des Romans beflügelte.
Von der Straße her hörte er das Knattern eines Motorrads. Auf der Maschine hockte die korpulente Gestalt von vorgestern.
Er ist es! Grothe! Was mache ich jetzt?
Philipp war nicht der Typ, der sich gleich wie ein ängstliches Mäuschen verkroch. Er entschloss sich, ruhig stehen zu bleiben und mit keiner Geste zu signalisieren, dass ihm die Situation Unbehagen bereitete.
Der Biker war ungefähr im gleichen Alter wie Philipp, also Ende vierzig. Ein ungepflegt wirkender dunkler Vollbart mit etlichem Grau ließ ihn verwegen aussehen. Er trug wieder die typische Motorradkleidung mit der Rainbow-Kutte. Und darunter sah er recht kräftig aus.
Bei einer Prügelei zieh ich mit Sicherheit den Kürzeren! Standhaft bleiben, aber nicht provozieren.
Grothe hatte den Schriftsteller ebenfalls ausgemacht. Er brachte sein Motorrad zum Stehen, stieg ab und stürmte mit schnellen Schritten durch das vordere Gartentor auf Philipp zu.
Weglaufen oder Stärke zeigen?
Philipp erstarrte auf dem Rasen und war für einen kurzen Moment entscheidungsunfähig. Die brennende Zigarette entglitt seiner Hand.
Okay, bleibt nur Stärke vortäuschen.
Grothe machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. Philipp streckte den rechten Arm aus und hielt die Handfläche nach vorn: „Stopp! Was soll das? Was wollen Sie?“
Sein Gegenüber kam tatsächlich zum Stehen. Die Mundwinkel zuckten, beide Arme vollführten ruckartige Bewegungen, bevor er laut verkündete: „Ich bin gekommen, um mit dir, du verkappter Schwulenhasser, abzurechnen. Dein verdammtes Drecksbuch!“
Der steht total unter Dampf!
„Verlassen Sie bitte sofort mein Grundstück!“, entgegnete Philipp, wobei seine Stimme leicht brüchig wirkte.
Grothe stand mit zwei Schritten direkt vor dem Schriftsteller und drückte ihm die rechte flache Hand ins Gesicht. Philipp taumelte zurück. Der Biker setzte nach, schubste seinen Widersacher mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Philipp kam ins Straucheln, konnte mit Mühe verhindern, zu Boden zu stürzen.
In seiner Verzweiflung hatte der Autor einen Geistesblitz.
„Da ist die Polizei!“, schrie er und deutete mit dem Finger hinter Grothe, der verblüfft innehielt und sich umdrehte. Aber da war niemand!
Philipp nutzte die Verwirrung und flüchtete Richtung Terrasse.
„Eh, du Arsch, dich krieg ich!“, hörte er hinter sich den Biker brüllen.
Der Schriftsteller stieß die angelehnte Terrassentür auf, rettete sich ins Wohnzimmer und verschloss sofort hinter sich die Tür. Der Angreifer erschien auf der Terrasse. Philipp fingerte sein Smartphone aus der Hosentasche und rief mit zittriger Stimme die Polizei um Hilfe.
Grothe schlug wechselseitig mit beiden Handinnenflächen gegen die Glasscheibe der Terrassentür. Dann machte er einige Trippelschritte und rieb die Hände an seinen Oberschenkeln. Er war sichtlich aufgeregt, aber noch unentschlossen, ob er die nächste Grenze überschreiten und versuchen sollte, das Glas der Tür einzuschlagen.
Philipp atmete kurz auf, als der Angreifer die Terrasse verließ und in den Garten zurückkehrte.