Die Frauen von Janowka. Helmut Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Exner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783943403077
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Kein Wölkchen am Himmel, kein Lüftchen regte sich. Dann ein Donnerschlag, der Serafine das Blut in den Adern stocken ließ. Danach ein langanhaltendes Grollen. Friedrich und Serafine sahen sich an. Das konnte doch kein Donner sein! Nicht bei diesem Wetter. Kanonen? War etwa Krieg ausgebrochen, ohne dass es jemand gemerkt hatte? Nein. Wo sollten denn diese Kanonen sein? Man konnte bis zum Horizont schauen. Da waren keine Kanonen. Dann begann Musik zu spielen. Da musste eine große Kapelle in der Nähe sein, die spielte und spielte. Christine und Gottlieb kamen fassungslos vom Nachbarfeld herüber.

      »Was ist das, wo kommt die Musik her?«, fragte Christine, und Gottlieb sagte: »Habt ihr diesen Donner gehört? Das gibt es doch gar nicht.«

      »Doch, das gibt es«, antwortete Serafine. Sie wusste Bescheid.

      - Kapitel 8 -

      Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die... – ja was? Nicht erklärbar sind? Aus der Welt des Übersinnlichen kommen? Die man nur als verrückt bezeichnen kann? Die es nach den Gesetzen der Naturwissenschaften und der Logik gar nicht geben kann? Aber trotzdem gibt es sie. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde war ein Spruch, den ich oft gehört habe. Denn in meiner Familie traten diese Dinge über Generationen hinweg immer wieder auf.

      Im Jahr 1962 war ich ein neunjähriges Kind. An einem Tag, an dem ich eigentlich in der Schule hätte sein sollen, lag ich auf dem Sofa, weil ich krank war oder keine Lust hatte, zur Schule zu gehen. Vor unserem Haus hielt ein Auto. Meine Mutter, die aus dem Fenster schaute, um zu sehen, wer ausstieg, nahm einen trancehaften Gesichtsausdruck an. Nach langen Sekunden sagte sie dann ganz langsam: »Ich glaube, da kommt Tante Natalie.«

      Ich glaube, da kommt Tante Natalie. Wenn sie gesagt hätte: »Ich glaube, da kommt der Mann vom Mond«, wäre das kein Unterschied für mich gewesen. Tante Natalie war für mich eine Art Mythos. Sie war die Schwester meines Vaters, in Wolhynien geboren, in der DDR, die man damals noch Ostzone nannte, lebend. Meine Eltern hatten sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter hatte meinem Vater strikt verboten, in die Ostzone zu reisen, weil bekannt war, dass die Sowjets 1945/46 etliche Leute, die aus der Ukraine kamen, zurück in die Sowjetunion geholt hatten. Von vielen hatte man nie wieder etwas gehört. Und DDR-Bürger durften nicht in den Westen reisen. Für mich war Tante Natalie, der zu begegnen ich niemals gehofft hatte, eine Art Märchenfee, eine liebe Tante, die es mal gegeben hatte und heute in einer unerreichbaren Welt lebte. Nun durfte diese Tante in den Westen reisen, da sie aufgrund einer schweren Krankheit Rentnerin geworden war, obwohl sie die Altergrenze noch nicht erreicht hatte und nie erreichen würde. Tante Natalie, ein kleines, dünnes Persönchen, unscheinbar wirkend, aber mit einem riesengroßen Herzen. Sie war es, die die Geschichte ihrer Mutter Serafine erzählte:

      An einem heißen, wolkenlosen Sommertag in Wolhynien in der Ukraine erlebten ihre Eltern dieses Phänomen des Donners bei strahlendem Wetter und der Musik, die erklang, ohne dass eine Kapelle spielte. Serafine ging daraufhin zu ihrem Haus, packte ein paar Sachen, spannte das Pferd ein, holte ihre Mutter ab und machte sich auf den Weg zu ihrer Schwester, die ihr Bescheid gegeben hatte. Nach einer Zwischenübernachtung bei Verwandten – es gab überall in der Gegend Verwandte und Leute, mit denen man verschwägert und befreundet war, erreichten sie schließlich das Haus des Schwagers und Schwiegersohns. Es war keine Überraschung, als man ihnen mit traurigen Gesichtern erzählte, dass Justina zur Zeit des Donners und der Musik heimgegangen war. Denn in unserer Familie starb man nicht, man ging heim.

      - Kapitel 9 -

      Serafine und Friedrich bekamen ihre erste Tochter, Auguste, im Februar 1911. Im Oktober 1912 wurde Natalie, die zweite Tochter, geboren. Ein paar Tage später hatte der Küster die Taufe vorgenommen. Die achtzehnjährige Katlika hatte Serafine in den letzten Wochen im Haushalt geholfen. Sie hatte etwas Zeit gebraucht, um sich von der Geburt zu erholen. Mit zwei kleinen Kindern zurecht zu kommen, war zunächst einmal ungewohnt. Und die Arbeit in Haus und Hof machte sich auch nicht von alleine. Katlika war gern bei Serafine und den kleinen Mädchen. Außerdem kam sie dadurch auf andere Gedanken. Denn sie war verliebt.

      Was zwei Jahre zuvor als normale kleine Schwärmerei zu Eduard Ehmke begonnen hatte, war inzwischen zu einer großen Liebe geworden. Am liebsten hätte sie Eduard sofort geheiratet. Ihr Vater Karl war anderer Meinung. Sie sah immer noch aus wie ein dreizehnjähriges Mädchen, war klein und dünn, so dass ihr Vater nicht recht wahrhaben wollte, dass sie inzwischen erwachsen und heiratsfähig war. Er hatte sich Eduard vor einiger Zeit vorgenommen und ihm gesagt:

      »Pass mal auf, mein Junge. Solange du nicht verheiratet bist, behalte deine Hände mal schön bei dir, und auch deine anderen Körperteile. Wenn Katlika alt genug ist und ihr euch immer noch mögt, kannst du zu mir kommen und offen mit mir reden.«

      Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wann Katlika in Karls Augen alt genug war. Andere Mädchen heirateten schon mit siebzehn, oder wenn sich Nachwuchs

      einstellte, sogar schon früher. Katlika bedrängte ihren Vater bei jeder Gelegenheit. Die letzte Entscheidung traf ohnehin ihre Mutter Christine. Wenn sie dem Vater sagen würde, dass sie jetzt alt genug zum Heiraten wäre, dann würde er schon zustimmen.

      Katlika saß in Serafines Küche und bearbeitete das Butterfaß. In Gedanken führte sie einen Monolog aus einer Mischung von Wut und Enttäuschung. Was denkt Vater sich eigentlich! Ich bin doch nicht mehr sein kleines Mädchen. Ich bin eine erwachsene Frau. Nur weil ich keine große, dicke Matrone bin, kann er mich doch nicht wie ein Kind behandeln. Ich will verdammt noch mal tun, was alle tun. Mit einem Mann im selben Bett liegen, mich überall berühren lassen, ihn nie wieder wegschieben und vertrösten. Ich will mit ihm allein sein. Ich will meinen Spaß! Und Mutter ist genau so. Ich kann es nicht mehr hören: Warte noch ein bisschen. Du bist doch noch so jung, und Eduard ist auch noch so jung. Diese ganze Leier geht mir auf die Nerven!

      »Na Katlika, die Butter müsste eigentlich schon fertig sein, so energisch, wie du stampftst.« sagte Serafine.

      »Huch, hast du mich jetzt erschrocken! Ich war so in Gedanken. Und ich bin wütend.«

      »Das ist nicht zu übersehen. Offenbar hast du Liebeskummer.«

      »Ganz im Gegenteil. Ich möchte endlich heiraten.«

      »Ich denke, ich sollte mal mit deiner Mutter reden. Warum sollst du nicht mit achtzehn heiraten? Außerdem ist der Eduard ein netter Kerl. Und wenn du ihn heiratest, sind wir beide nicht nur verschwägert, sondern auch verwandt. Eduard ist ja ein Cousin von mir.«

      »Mit wem in der Gegend sind wir eigentlich nicht verwandt?«, fragte Katlika.

      »Na, da gibt es nicht sehr viele«, entgegnete Serafine schmunzelnd.

      »Dann rede doch mal mit meiner Mutter. Ich halte es nicht mehr lange aus, Eduard immer wegschieben zu müssen, aus Angst, dass etwas passieren könnte. Und wenn´s dann doch passiert, dann ist die Katastrophe da.«

      »Na, soweit wollen wir es nicht kommen lassen. Ich rede mit deiner Mutter an Weihnachten. Da sind alle in guter Stimmung. Und wenn deine Mutter ja sagt, kann dein Vater nur noch nicken.«

      Beide Frauen fngen an zu schmunzeln, was dann in einem ausgelassenen Kichern endete.

      An Heiligabend fing es an zu schneien. Gegen sechs Uhr abends strömte das gesamte Dorf ins Bethaus. Eigentlich fanden hier nur Wortgottesdienste statt. Aber an Heiligabend wurde gesungen. Der Chor, der sonst meist anlässlich von Beerdigungen sang, hatte einige Lieder einstudiert. Die meisten Gottesdienstbesucher mussten stehen. Stühle gab es nur für die Alten und Gebrechlichen. Der Küster sagte mit großer Inbrunst ein Gebet, an dessen Ehrlichkeit niemand zweifelte:

      »Herr, lass uns auch weiterhin in Frieden mit unseren Brüdern und Schwestern zusammenleben, ob sie nun Deutsche