Die Frauen von Janowka. Helmut Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Exner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783943403077
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es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte. Es wurden Häuser gebaut. Die Häuser mussten eingerichtet werden, was den Tischlern Arbeit brachte. Man brauchte Stoff zum Nähen, was bei den Tuchmachern für Beschäftigung sorgte, die wiederum Rohmaterial von den Bauern erwarben. Jeder musste sich kleiden, brauchte Schuhwerk. Werkzeuge wurden benötigt. Produktion und Handel blühten. Es herrschte Aufbruchstimmung. Der Wohlstand in dieser Provinz wuchs, während in vielen anderen Gegenden des russischen Riesenreiches bittere Armut herrschte. Dieses Phänomen, dass es mit der Wirtschaft bergauf geht, wenn viele Menschen ein dünn besiedeltes Land betreten und sich dort einrichten, kannte man in Russland schon seit Jahrhunderten, zum Beispiel an der Wolga oder im Schwarzmeergebiet. Es gab 1890 etwa zweieinhalb Millionen Deutsche, die im Zarenreich lebten, davon etwa zweihundertvierzigtausend in Wolhynien. Und das waren nicht die einzigen, die von weit her gekommen waren, um dort zu leben. Auch aus vielen anderen Ländern machten sich Menschen auf den Weg, um sich in Russland ein besseres Leben aufzubauen. Neben Russen, Weißrussen, Ukrainern, Polen und Deutschen zog es auch Holländer, Tschechen, Slowaken, Litauer und Ungarn hierher. Dazu gesellten sich etliche einzelne Glücksritter aus vielen anderen Ländern, die hier zu Wohlstand kommen wollten. Es kamen auch nicht wenige Menschen, die aus religiösen Gründen in anderen Ländern verfolgt wurden. Mennoniten, Hutterern, Baptisten und anderen wurde hier Religionsfreiheit zugesagt. Die Zuwanderer hatten das ganze Reich befruchtet. Doch damit war es längst vorbei. Zwischen dem Zaren und dem deutschen Kaiser herrschte Spannung. Den Deutschen wurden plötzlich alle möglichen Privilegien gestrichen, egal ob es um Steuern ging, um den Militärdienst oder um die deutsche Sprache in der Schule. Unter Alexander III. ging es mit den Deutschen in Russland allmählich bergab, ebenso wie mit anderen Minderheiten. Besonders schmählich wurden die Juden behandelt. In den Schtetls gab es zwar etliche Juden, denen es recht gut ging, einige waren sogar wohlhabend, aber es gab auch bittere Armut. Und unter Zar Nicolaus II. verschlimmerte sich die Situation stetig. Hinzu kamen die ständig wachsenden Unruhen in der russischen Bevölkerung. Die Alleinherrschaft des Zaren und die Privilegien des Adels wurden mit eiserner Gewalt verteidigt. Nach der Revolution von 1905 war ein Spitzelsystem installiert worden, das politisch Auffällige entlarvte. Es reichte schon eine falsche Bemerkung, die man im Suff von sich gegeben hatte, und man fand sich in einem sibirischen Straflager wieder.

      Friedrich war in leichtem Gallopp auf seinem Braunen unterwegs. Wie immer, wenn er allein war, ließ er seine Gedanken schweifen. Die Bauernhöfe und Felder, an denen er vorbei ritt, nahm er gar nicht wahr. Stattdessen dachte er daran, ob er in Solomiak dem einen oder anderen Mädchen begegnen würde. So zwei, drei von ihnen hatte er schon ins Auge gefasst. Aber was sollte er tun, wenn ihm eines dieser begehrten Geschöpfe über den Weg lief? Abrupt anhalten? Er ließ das Pferd erst mal Schritt gehen. So, wenn mir jetzt eines dieser Mädchen begegnet, kann ich eine Unterhaltung anfangen, ohne dass es aufdringlich aussieht. Es war schon ein Kreuz mit den Weibern. Die, die in seinem Alter waren, wollten gleich heiraten. Oder sie hatten Eltern, die sie unter die Haube bringen wollten. Und mit den Fünfzehn- oder Sechszehnjährigen konnte man nichts anfangen, ohne das Risiko einzugehen, sich einen Schlag mit dem Dreschflegel von einem erbosten Vater einzufangen. Und wenn es doch gelang, einem Mädchen im Verborgenen nahe zu kommen und es passierte etwas, dann musste man trotzdem heiraten. Nein, dafür liebte er seine Freiheit noch zu sehr. Er war schon froh, dass er der Sippe seines Großvaters entkommen war. Denn sonst würde er vermutlich sein Dasein an irgendeinem Webstuhl fristen. Einige seiner Cousins unten in der Gegend um Dubno arbeiteten in der Fabrik von Onkel Robert. Andere, besonders die Frauen in der Familie, hatten einen Webstuhl zuhause und schufteten sich krumm. Das wäre kein Leben für ihn. Gott sei Dank war sein Vater Bauer. Und das Land hier war groß genug, um es sich mit seinem Bruder Gottlieb eines Tages zu teilen, wenn man noch etwas hinzukaufte. Hätten seine Eltern nicht die Initiative egriffen, hierher zu kommen, wäre er wahrscheinlich auch in der Tuchfabrik gelandet. Mit mir nicht, dachte er. Und für Ehe und Kinder bin ich auch noch zu jung. Er war ganz verdutzt, als er plötzlich sein Ziel erreicht hatte und aus den Gedanken gerissen wurde.

      »Scholem-alejchem, Salomon.«

      »Ah, der Friedrich. Ich hab schon denkt, du kumst nikt mehr oder die Butter is nikt dick worden bei diesem Weter.«

      Der junge Salomon kam einmal pro Woche in die Kolonie Solomiak, um sich von den Bauern aus der Gegend die Butter bringen zu lassen, die seine Eltern in der Kreisstadt Kostopol verkauften. Er war ein etwa dreißigjähriger, bärtiger Mann, der bei den Leuten in der Gegend sehr beliebt war, freundlich zu jedem und sehr korrekt bei der Abrechnung. Da es den Juden fast überall in Europa über Jahrhunderte verboten war, Landwirtschaft zu betreiben oder ein Handwerk auszuüben, hatten sich die meisten auf den Handel spezialisiert. Salomons Familie handelte mit Butter, die für ein koscheres Essen unverzichtbar war. Teilweise schickte er sogar jüdische Melker in die Kuhställe, um sicherzugehen, dass alles koscher zuging. Da Christine dies nicht erlaubte, stellte er zumindest die Melkeimer, die für nichts anderes benutzt werden durften. Seine Kundschaft konnte sich also darauf verlassen, dass sie wirklich koschere Butter bekam, und seine Lieferanten erhielten stets pünktlich ihr Geld. So hatte es Salmons Familie zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Salomon war verheiratet und hatte vier Kinder. Seine Eltern und einige andere ältere Familienmitglieder waren von seiner Arbeit abhängig. Er bewegte sich in mehreren Sprachen. Aber natürlich kam sein jiddischer Akzent immer heraus. Und er verwendete auch jiddische Ausdrücke, die man allerdings in den meisten anderen Sprachen kannte und gar nicht mehr als jiddisch galten. Da er mehrere Dörfer und Kolonien besuchte und im übrigen in der Stadt wohnte, war er auch eine stetige Quelle für Nachrichten. Die Dorfbewohner waren immer begierig, etwas Neues von ihm zu erfahren. Vieles, was sie in diesen Zeiten zu hören bekamen, war zwar alles andere als gut. Aber die meisten Leute wogen sich in der Hoffnung, dass das Schlechte sie nicht erreicht.

      »So, Friedrich, do hast du dei Moos far dem Monat«, sagte Salomon und zählte ihm den Betrag ruhig und bedächtig auf den kleinen Tisch, den er neben seinem Wagen aufgestellt hatte. Dann machte er einen Vermerk in seinem Kassenbuch und ließ Friedrich unterschreiben. Salomon hatte seinen Zweispanner vor der Scheune eines Bauernhofs in Solomiak stehen, so wie jeden Donnerstag.

      »Wos hert sich nais?«

      »Es gibt nichts Neues. Viel Arbeit, wie immer.«

      »Host du schoin hert, dass die Schindels izt auch farkoifn hobn?«

      »Was?« rief Friedrich völlig entrüstet. »Aber wo wollen sie denn hin? Im deutschen Reich ist es ja auch kein Honigschlecken.«

      »Wer redn von Deitschland?« entgegnete Salomon. »Kanada! Dos is ein grois Land in Amerika, nördlich der Verainikt Staaten. Es gehert der englischen Kinign, und die is offenbar dankbar far jedn naie Imigrant, der die Wildnis do in geratn Ackerland macht. Man derzailt sich richtik Wunderzach von Kanada. Die winik Briten, die da lebn, fartrogn die Kalt im Winter nit, und mit de Hitzn im Zumer kumn se auch nit zurekt. Ober far ingl Leit wie dich, die es gewohnt sind, Erd zu rode, bei brien Hitzn auf dem Feld zu ackern und im eisik Winter Holz zu schlake, is es genau das richtik.«

      »Aber man kann doch nicht alles liegen und stehen lassen und wieder von vorne anfangen.«

      »Besser so, als eines Tags gar niks dafür zu krign und sich obendrein auch noch in der Armee vom Zar toitschisn losn. Sieh dir die Mennonite an. Erscht wurde ihnen versprochen, dass ma se nit zu die Soldaten holt, und dann hat ma all Jingls holt. Viele von si sind derweil auch in Kanada. Sie habn da sogar a Schtot oifschtelnt: Steinbach. Und was ich so derhern, soll es ihnen da woil ergehen.«

      Schweigen breitete sich aus, das von Salomon unterbrochen wurde: »Der Zar will alles russifizieren. Mein Foter erinnert sich noch daran, als das Dorf, in dem du woinst, Johannesdorf hieß. Und wie heißt es heute? Janowka! In die deitsche und polnische und ukainische Schul soll Russisch lernt werden, alle sollen dine in de russisch Armee. Wer nit tut, was wird verlongt, dem wird der Pachtkontrakt aufkündigt oder er bekommt kein Kredit mehr von der Bank. Entweder ma werdet russischer als die Russen oder ma wird orem und kann sich als Knecht dingen.«

      »Bis jetzt ist weder deine Familie noch meine verarmt. Butter wird immer