Der Mensch ist böse. Julian Hannes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julian Hannes
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Юриспруденция, право
Год издания: 0
isbn: 9783833872105
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sprechen, wird eine Frage immer wieder gestellt: Werden diese Menschen so geboren oder sind sie im Lauf ihres Lebens zu dem geworden, was sie sind und waren? Oder wie man in Amerika kurz und knapp fragt: »Born or made?«

      In einer TV-Doku zum Thema Pädophilie wurde einmal ein Sexualmediziner mit der Frage konfrontiert, warum Menschen pädophil sind. Er gab darauf die beste Antwort, die ich bis dato gehört habe: Das hat biopsychosoziale Gründe – was in meinen Augen die wahrscheinlich cleverste Art ist zu sagen, dass wir keine Ahnung haben, wo es herkommt.

      Bei Psychopathie ist die Antwort ähnlich ernüchternd: Zwillingsstudien und Gehirnscans zeigen, dass es gewisse biologische und genetische Veranlagungen gibt. Ich halte es jedoch für gefährlich, diese genetischen Faktoren zu stark hervorzuheben, weil es die Täter in gewisser Weise von ihrer Schuld freispricht. Wenn sie so geboren sind, können sie ja nichts dafür. Das ist jedoch falsch! Um noch einmal auf das Beispiel der Pädophilie zurückzukommen: Die betroffenen Menschen können zwar nichts dafür, was sie sexuell anziehend finden. Sie können aber sehr wohl etwas für ihre Taten.

      Bei manchen Serienmördern lassen sich erstaunliche Parallelen in der Kindheit entdecken. Viele berichten zum Beispiel, dass sie als Kind zugesehen haben, wie Tiere geschlachtet wurden, und sehen darin eine Art Schlüsselerlebnis. Solche Faktoren alleine sind jedoch keine Erklärung. Tausende andere Kinder, die ebenfalls bei einer Schlachtung dabei waren, führen ein völlig normales Leben. Es muss also eine ganz bestimmte Person mit ganz bestimmten Genen ein ganz bestimmtes Schlüsselerlebnis machen. Es ist ein Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren – und die exakte Formel ist bislang nicht bekannt.

      Ein fundamentaler Denkfehler

      Wenn wir die Frage stellen, warum Menschen morden, fokussieren wir uns auf zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind böse geboren oder sie sind böse geworden. Auf jeden Fall aber steht außer Zweifel, dass die Ursache in der Person liegt.

      Mit so einem Menschen muss einfach irgendetwas nicht stimmen. Wer Böses tut, muss böse sein. Was wir dabei eindeutig unterschätzen, ist die Macht der Umstände. Und dieser Denkfehler ist solchermaßen typisch und gravierend, dass er in der Psychologie einen eigenen Namen erhalten hat: fundamentaler Attributionsfehler.

      Wir neigen dazu, die Ursache einer Handlung immer in der Person zu sehen, die sie ausübt: Jemand fährt nicht los, obwohl die Ampel grün ist? Sonntagsfahrer! Die Rezeptionistin lächelt nicht? Arrogant! Jemand schreit am Flughafen rum? Aggressiver Choleriker! Alles eine Sache der Persönlichkeit.

      Aber stellen Sie sich vor, jemand würde mir nur zwei Situationen aus Ihrem Leben erzählen: eine, in der Sie einen Fehler gemacht haben, und eine, in der Sie wütend waren. Das Profil, das ich daraufhin von Ihnen erstellen würde, lautet: dumm und aggressiv. Wahrscheinlich würden Sie sofort widersprechen und erklären, dass das ja zwei Ausnahmesituationen waren. Sie würden erklären, wie es dazu kam, was die Vorgeschichte war, warum das passieren konnte. Wie Sie normalerweise sind, welche Personen involviert waren und was die vorher gemacht oder gesagt haben. Was danach passiert ist …

      Bei uns selbst sehen wir durchaus die Komplexität hinter dem, was wir tun. Bei anderen dagegen sehen wir nur das Ergebnis ihrer Handlungen, nicht, wie es dazu kam.

      Extremsituationen

      Wenn ein Prozent aller Menschen Psychopathen sind, heißt das auch, dass 99 Prozent aller Menschen keine Psychopathen sind. In vielen Fällen liegt die Lösung, um zu verstehen, warum Menschen töten, also gar nicht im Kopf der Täter, sondern in der Situation. Auch gute Menschen können Böses tun, sofern sie in Extremsituationen geraten.

      Der Psychologe Kurt Lewin hat eine gute Formel gefunden, um menschliches Verhalten zu erklären: Verhalten = Person x Umwelt. Um Verhalten zu analysieren, muss man also die Person und die Situation kennen.

      Es gibt aber auch wirkliche Extremsituationen, die selbst friedliche Menschen aggressiv machen können. Ein kleines Gedankenexperiment: Ich nehme an, dass Sie nicht wegen ein paar Pommes auf jemanden einstechen würden. Aber wie sieht es aus, wenn Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin beim Fremdgehen erwischen würden? Können Sie auch hier sicher sagen, dass Sie ruhig und besonnen reagieren würden? Was wäre, wenn Ihr Kind Opfer von sexuellem Missbrauch geworden wäre und Sie dem Täter vor Gericht begegnen würden? Das freche Grinsen auf dem Flur brächte Sie vermutlich bereits innerlich zum Kochen.

      Aber was, wenn er auch noch stolz auf seine Taten wäre und Ihnen wortwörtlich ins Gesicht spucken würde? Könnten Sie dann immer noch sicher Ihre Reaktion vorhersagen?

      Ich will das Töten eines Menschen in keiner Weise rechtfertigen und Selbstjustiz nicht verteidigen. Manchmal liegt die Erklärung für eine böse Tat aber nicht in der Person, sondern in der Situation. Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen in der Geschichte immer wieder zu Kannibalismus neigten, wenn die Alternative die war zu verhungern. Die Situation muss nur extrem genug sein, damit auch ganz normale Menschen Dinge tun, die sie sonst nie tun würden.

      Kann also jeder Mensch zum Mörder werden? Diese Frage beantworten Experten unterschiedlich. Ich persönlich würde sagen: Nein, nicht jeder, aber wahrscheinlich die Mehrheit – wenn die Umstände extrem genug sind. Ich glaube aber auch, dass es Menschen gibt, die niemals töten würden – egal, in welche Situation sie kommen, und egal, was passiert. Andere hingegen würden wegen einer Pommes töten. Profiling bedeutet, Details zu beobachten, rückwärts zu denken und Motive herauszufinden. Wir sollten Verhalten immer im Kontext sehen, im Sinne der Formel: Person x Situation.

      Blinder Gehorsam

      Wohl kaum ein Versuch in der Psychologie wurde so berühmt wie die Gehorsamkeitsexperimente von Stanley Milgram. Auch wenn seine Gehorsamkeitsexperimente heute umstritten sind und die Ergebnisse teils anders interpretiert werden, wurden die wesentlichen Erkenntnisse doch immer wieder bestätigt. Was war das für ein Experiment?

      Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Versuchslabor. Ein Versuchsleiter kommt auf Sie zu und begrüßt Sie. Er trägt einen weißen Kittel und hat einen festen Händedruck. Er erklärt Ihnen, dass es in dem Experiment um das Thema Gedächtnis und Bestrafung gehen soll. Es gibt zwei Teilnehmer. Sie bekommen die Rolle des Lehrers zugewiesen, eine andere Person nimmt die Rolle des Schülers ein. Der Schüler wird in einen Nebenraum gebracht, wo Sie ihn zwar nicht mehr sehen, aber immer noch gut hören können. Er wird dort an einen Elektroschocker angeschlossen – und Sie sitzen an den Schaltern, um die Elektroschocks auszulösen. Der Versuchsleiter erklärt Ihnen, dass der Schüler gleich Aufgaben bekommt. Wenn er einen Fehler macht, sollen Sie ihm einen Schock verpassen – und dabei die Stärke der Elektroschocks bei jedem Fehler steigern.

      Es geht los, der erste Fehler passiert und Sie lösen einen kleinen Schock von etwa 15 Volt aus. Die Fehler werden immer mehr, die Schocks immer stärker. Sie werden nervös, der Schweiß steht Ihnen auf der Stirn. 75 Volt, Sie hören den Schüler bereits deutlich leiden. Der Versuchsleiter jedoch erklärt, Sie müssen weitermachen. 120 Volt: Sie hören laute Schmerzensschreie aus dem Nebenraum. Fragend sehen Sie zum Versuchsleiter, aber der meint, es ist wichtig, dass Sie weitermachen. 150 Volt: Der Schüler will abbrechen. 200 Volt: laute Schreie, die Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen. 300 Volt: Der Schüler trommelt gegen die Wand des Raums. 315 Volt: Er schreit und trommelt nochmals gegen die Wand. 330 Volt: Stille. Sie hören nichts mehr. Keine Antwort, keine Schreie. Haben Sie