So konnte sie nicht Evas schlechten Ratschlägen die Schuld geben, als sie und Louis nach nur wenigen Monaten in eine Krise gerieten. Es lag an ihrer Wohnsituation – an der wiederum Anja die Schuld trug. Der Schrebergarten, in dem sie illegal lebten, sollte abgerissen werden und sie hatten keine Ahnung, wohin. Sobald irgendwo tief im Inneren des Ordnungsamtes das betreffende Papier den betreffenden Stempel erhalten hatte, sollte die gesamte jahrhundertalte Schrebergarten-Kolonie zugunsten eines Apartment-Komplexes plattgemacht werden. Man konnte den Verlust des geschichtsträchtigen Erbes beklagen, noch lauter ließ sich jedoch über den Mangel an erschwinglichem Wohnraum klagen, und so war der Bau der Wohnanlage ohne großen Protest beschlossen worden.
Ihr Schrebergarten lag gerade noch innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Grenze jenes Teils der Stadt markierte, in dem sich komfortabel leben ließ. Vor langer Zeit waren die Tausenden von Gartenparzellen als urbane Zufluchtsorte geschaffen worden, über die Stadt verteilte Naturstücke, in denen ausgelassene Kinder frei herumtollen konnten. Doch als während des Ersten Weltkriegs Nahrungsmittel plötzlich knapp wurden, verwandelte man die kleinen Gärten rasch in urbane Bauernhöfe, was einer Urbewegung des nachhaltigen Lebens gleichkam. Später, als der Krieg vorbei war, die Embargos gelockert wurden und die vom Elend erschütterte Stadt kurzzeitig sich selbst überlassen war, richteten sich die Ärmsten der Ärmsten in den Gärten ein. Hütten wurden zu Heimen, aus hausen wurde wohnen. Doch bevor es sich irgendjemand zu gemütlich machen konnte, leerte der nächste Krieg die Gärten ein weiteres Mal, überließ sie dem Wildwuchs, und zum ersten Mal in vielleicht tausend Jahren übernahm wieder die Natur.
In der nächsten Nachkriegszeit, der Ära der großen Teilung, wurden einige Gärten in der Mitte durchgeschnitten und entwickelten sich zu Portalen des Schmuggels unter dem wuchernden Grün. Schließlich fiel die Mauer, oder besser gesagt, die Mauer wurde von Tausenden von Händen und Maschinen niedergerissen, und wieder einmal verwandelte sich die Stadt in eine riesige Fläche von leeren Immobilien; die Gärten wurden wieder parzelliert und in Naherholungsgebiete fürs Wochenende umfunktioniert; die Vorfahren von Menschen wie Anja und Louis begannen aufzukreuzen. So wurde jeder winzige Garten mitsamt all seinem historischen Gepäck ein Stückchen Privatbesitz zu Freizeitzwecken. Die ganze Sache, das heißt, die ganze Stadt, bewegte sich im Kreis, die Geschichte drehte und verwickelte sich wie ein Haarknäuel im Abfluss.
Zu dem Zeitpunkt, als Anja in der Stadt ankam, waren die Mieten innerhalb des S-Bahn-Rings höher denn je und alle zentral gelegenen Schrebergärten bereits renoviert und vergeben. Nicht übersaniert wie die meisten Wohnblöcke in der Stadt, vielmehr nutzte man ihren Miniaturcharme, um sie in winzige, überteuerte Mieteinheiten zu verwandeln, die Städtern eine »Ausflugserfahrung« bieten sollten. Nur einige entlegenere Gärten jenseits der Peripherie waren immer noch verwahrlost und nicht reguliert. Anja hatte ihren Garten auf einem langen Wochenendspaziergang Richtung Süden entdeckt. Fernab von allen Bahnhöfen stieß sie auf die umzäunte Anlage aus zwölf kleinen Häusern, die durch zottelige Hecken voneinander getrennt waren und zusammen nur etwa den Platz von zwei Häuserblöcken einnahm. Die meisten dieser Hütten waren besetzt, doch drei standen leer, und eine davon hatte sogar ein anständiges Dach. Nachdem sie ein paar Mal zurückgekehrt war und herumgeschnüffelt hatte, fand sie die Frau, die die Verwaltung zu improvisieren schien, und zahlte bei ihr in bar für sechs Monate im Voraus.
Nachdem die sechs Monate um waren, mittlerweile war Louis bei ihr eingezogen, konnten sie zu keiner Entscheidung gelangen, was sie nun tun sollten. Sie waren sich einig, dass die Hütte immer unbewohnbarer wurde, der Zustand des Daches verschlechterte sich von Tag zu Tag, doch eine richtige Wohnung zu finden und zu bezahlen schien unmöglich. Strenggenommen noch immer nur als Praktikantin bei RANDI angestellt, verdiente Anja zu dieser Zeit lächerlich wenig Geld, und wollte weder ihren Fonds anzapfen noch zulassen, dass Louis den Großteil der Miete für eine neue Wohnung alleine zahlte. Louis war es egal, ob er dafür zahlen musste (mit seinem aufgeblasenen Gehalt bei Basquiatt hätte er leicht die Miete für eine neue Wohnung stemmen können), er wollte einfach nur raus aus dem feuchten, zerfallenden, dem Untergang geweihten Gartenhaus. Anja bestand jedoch darauf, dass ihn zahlen zu lassen eine ungesunde Abhängigkeit schaffen würde. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wie der nächste Schritt aussehen sollte und bewegten sich am Abgrund einer Trennung entlang.
Das sechsseitige Einladungsschreiben, dem neuen sozio-ökologischen Wohnexperiment beizutreten, tauchte wie aus dem Nichts in ihrem Postschließfach auf. Es war in komplexem, bürokratischem Deutsch verfasst, das Louis, bevor Anja nach Hause kam, mittels Google zu übersetzen versucht hatte, was ihn, da er glaubte, es handele sich um einen Räumungsbescheid, in Panik versetzt hatte. Anja überflog die erste Seite und wusste sofort, wer für dieses Schreiben verantwortlich war.
(Howard war sich des maroden Zustands der Gartenhütte sehr genau bewusst, da er selbst ein paar Mal dort übernachtet hatte, in der Zeit vor Louis. Die Schäbigkeit hatte ihm gefallen, war sie doch ein handfester Beweis dafür, dass er Sex mit einer Sechsundzwanzigjährigen hatte. Mit ihr auf der Matratze am Boden zu liegen, hatte ihm das Gefühl gegeben, sehr weltoffen zu sein.)
Der Brief war eine protzige Demonstration seiner Großmut, deren Ausmaß allein die Geschichte mit Anja unbedeutend erscheinen ließ, und prahlte gleichzeitig mit seinem Einfluss – wie viele soziale und professionelle Hebel musste er in Bewegung gesetzt haben, um dieses Kunststück zu vollbringen? Sie verstand den Subtext nur zu gut. Howard war ein reifer Mann, der keinen Groll hegte. Er hatte ihr nicht nur eine kostenlose Wohnung zuteilwerden lassen, die aufgeladen war mit kulturellem und moralischem Kapital, sondern einen Ort, an dem sie beide leben konnten: Anja plus Louis, der Typ, der ihn ersetzt hatte. Hatte Anja etwa kleingeistige Eifersucht und Rachsucht von ihm erwartet?
Sie hatte gezögert, das Angebot anzunehmen, aber Louis hatte sich entschlossen gezeigt. Die Ökosiedlung war zu gut, als dass sie hätten Nein sagen können, ganz egal, wie die Sache zustande gekommen war. Eifersucht war kein Thema für ihn, und alles in allem, hatte Anja entschieden, war sie dankbar dafür.
3
Louis hatte die Kunst des Telefonierens noch nie beherrscht. Er klang distanziert und abgelenkt, als würde er von einem Zimmer aus anrufen, in dem ihm niemand zuhören sollte. Das war typisch männlich und nicht weiter schlimm. Anja störte sich nur noch daran, weil es sie indirekt an die Unfähigkeit ihrer Eltern erinnerte, per Telefon zu kommunizieren. Wochenlang meldeten sie sich gar nicht, waren in einem Wirrwarr aus Zeitzonen nicht erreichbar, und dann schickten sie plötzlich eine Reihe penetranter Sprachnachrichten: Alles in Ordnung bei dir??? Melde dich bitte??? Nur, um dann wieder genau so plötzlich in der Dunkelheit zu verschwinden.
Nachdem sie Howards Wohnung verlassen hatte, beschloss sie, Louis eine SMS zu schreiben, anstatt ihn anzurufen. Die Unterhaltung wollte sie sich für später aufheben, wenn er körperlich anwesend und ganz er selbst war. Aber nachdem sie ihm eine Nachricht mit einem kurzen Update geschickt hatte, klingelte sofort ihr Handy. Sie war gerade auf ihr Fahrrad gestiegen und musste den Ständer wieder herunterklappen, und als sie seine Stimme plötzlich so nah hörte, erinnerte sie sich auch daran, die Ohrstöpsel herauszunehmen.
»Das ist großartig!« Er klang, als würde er ins Telefon grinsen. »Endlich würdigen sie dich!«
Sie runzelte die Stirn. »Ist ja nicht so, dass ich herumgesessen und auf Anerkennung gewartet habe.«
»Sei nicht so bescheiden.«
»Ich bin nicht bescheiden. Ich habe nur nicht das Gefühl, dass ich schon in der Position bin, um …«
»Früher oder später wäre das ohnehin passiert. Nun ist es also früher geschehen als erwartet.«
»Aber ich habe nichts erwartet – Beraterin zu werden, war nie mein Ziel.«
»Du musst das annehmen! Das ist dein Schicksal«, sagte er lachend. »Wir werden eine Familie von Beratern sein.«
»Ich wollte eigentlich weiter forschen.«
»Du kannst weiter forschen.«
»Ich weiß nicht. Das ist richtiges Consulting. Du weißt, was ich meine. Ich