Am Ende blieb die Summe offen. Dies war vor allem der Eifersucht zwischen den beiden Alliierten geschuldet, die sich untereinander weder über den Umfang noch über den Verteilungsschlüssel künftiger Reparationszahlungen einigen mochten. Dabei sprach, auch angesichts der Waffenstillstandsbedingungen, für die französische Forderung, dem Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Gebiete Vorrang zu geben, weitaus mehr als für das Bemühen Lloyd Georges, den britischen Anteil am Reparationskuchen durch die Hereinnahme von Pensions- und Unterhaltsansprüchen von Kriegswitwen und Soldatenfamilien künstlich aufzublähen. Angeregt zu diesem mehr als fragwürdigen Schritt wurde Lloyd George vom südafrikanischen General Smuts. Ironischerweise machte Smuts wenig später vor allem durch seine lautstarke Mißbilligung des Friedenswerks, das er gleichwohl unterschrieb, von sich reden. Ihm, der Keynes hartnäckig drängte, seine kritischen Gedanken publik zu machen, verdankt sich auch die Entstehung von Keynes’ Versailles-Buch.
Kam man in Paris aus der Klemme zwischen wirtschaftlichen Zwängen und dem Druck der öffentlichen Meinung schon nicht heraus, entschied man sich nun für die schlechteste aller Lösungen, den Aufschub des Problems. Zusätzlich zu einer anfänglichen Zahlungsverpflichtung über 20 Milliarden Goldmark unterschrieb Deutschland mit dem Versailler Vertrag gewissermaßen einen Blankoscheck. Der Vorschlag stammte ausgerechnet von Keynes, der angesichts der bizarren Höhe der von seinen Erzfeinden in der britischen Delegation vorgelegten Zahlen hoffte, daß den Politikern später ökonomischer Verstand zuwachsen würde. Sein Versailles-Buch, in dem er Deutschlands Zahlungsfähigkeit auf allenfalls 40 Milliarden Goldmark bezifferte, verstand sich nicht zuletzt als Argumentationshilfe. Aber er wurde enttäuscht: Im Mai 1921 wurde die deutsche Reparationsschuld schließlich auf 132 Milliarden Goldmark festgelegt – etwa das Dreifache des Bruttosozialprodukts, das ein größeres und reiches Deutschland einschließlich seiner Kolonien im Vorkriegsjahr 1913 erzielt hatte.
In der Zwischenzeit aber schwanden dem Land, das man später melken wollte, sowohl die Kreditwürdigkeit als auch der Glaube an sich selbst. Die deutsche Inflation, die 1923 in Hyperinflation und Währungszusammenbruch endete und als existentielle Entwertungserfahrung die Bevölkerung nachhaltig traumatisierte, war zwar zum Teil hausgemacht und politisch gewollt, da sie das Abschreiben der Kriegsschulden und den Export unterstützte, aber eben nur zum Teil. Denn daß der Dollar schon bis Ende 1919 gegenüber der Mark rund 465 Prozent zugelegt hatte, spiegelte vor allem den Pessimismus der Währungsspekulanten hinsichtlich Deutschlands Zukunft im Gefolge des Versailler Vertrags. Im Ausland hingegen überwog zunächst noch ein fester Glaube an deutschen Fleiß und deutsche Tatkraft. Im März 1920 stabilisierte sich die Mark vorübergehend gegenüber dem Dollar, nachdem Millionen von Kleinanlegern in Europa und den USA über Monate Milliarden von deutscher Papiermark erworben hatten. »Wir leben vom Kredit früherer Jahrzehnte«19, versuchte sich der Hamburger Privatbankier Max Warburg das seltsame Phänomen zu erklären. John Maynard Keynes hatte denn auch in der Annahme, daß die ökonomischen Folgen des Friedensvertrages sofort und durchgehend seiner Vorhersage entsprechen würden, in Währungstermingeschäften konsequent gegen die Mark und auf den Dollar gesetzt. Durch die abweichende Spekulationsblase aber verlor er die seinerzeit gewaltige Summe von mehr als 13000 Pfund Sterling eigenen Geldes sowie weitere 8500 Pfund, die er für Freunde investiert hatte. »So wenig verstehen Banker und Dienstmädchen von Geschichte und Wirtschaft«20, seufzte Keynes im Rückblick. Tatsächlich sollte er sich mit seiner Prognose nur kurzfristig verspekuliert haben.
Die Siegermächte haben 1919 in Paris sechs Monate lang ununterbrochen neben ihren Reparationsansprüchen auch Deutschlands Zahlungsfähigkeit diskutiert. Die Frage nach der Zahlungswilligkeit des Schuldners stellten sie sich dagegen kaum. Eingedenk der Tatsache, daß die Abwicklung der Reparationszahlungen aufgrund des Mangels an Pfändern in der Hand der Alliierten in hohem Maße von der Kooperation Deutschlands abhängen würde, war dies eine bemerkenswerte Unterlassung. Mit anderen Worten: Die Reparationen ließen sich, wie Frankreich 1923 nach der Besetzung des Ruhrgebiets erfuhr, nicht in beliebiger Höhe durchsetzen, wenn der Schuldner nicht wollte. Mit dem militärischen und bündnispolitischen Rückzug der USA aus Europa sollte dies erst recht gelten. Denn der ökonomische Rahmen des internationalen Systems, dessen Konturen zwischen November 1918 und Juni 1919 gezogen worden waren, hing weitgehend von Amerika ab.
Bei den Pariser Beratungen hatte der italienische Premier Orlando bereits nachdrücklich auf das entscheidende Problem der Durchsetzung alliierter Reparationsforderungen hingewiesen. »Es wäre gefährlich«, hatte er hellsichtig hinzugefügt, »ein Verfahren festzulegen, das letztlich böse Absichten und Verweigerung belohnt«21. Eben solch ein widersinniger, mithin negativer Anreiz war dem alliierten Reparationsschema aber von Anfang an immanent. Denn es sah eine Staffelung der Reparationen in verschiedene Tranchen vor, die erst im Erfüllungsfall nach und nach aktiviert werden sollten. Die Deutschen beklagten sich denn auch darüber, daß jede Anstrengung ihrerseits, die erste Reparationstranche abzulösen, mit einer erneuten Reparationsschuld bestraft werden würde. Allerdings war auch das Gegenteil wahr: Die Nichterfüllung der Reparationspflichten würde eine Senkung der deutschen Reparationslast zur Folge haben. Genau dies ist mit den unterschiedlichen Reparationsregimen, die mit amerikanischer Hilfe 1924 im Dawes- und 1929 im Young-Plan etabliert wurden, dann auch sukzessive geschehen. Bis zum endgültigen Ende der Reparationen 1932 in Lausanne zahlte Deutschland unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 22 und 30 Milliarden Goldmark, davon lediglich ein Drittel in Barleistungen. Dies lag nur unwesentlich über der Summe, die laut Versailler Vertrag allein bis zum Mai 1921 hätte geleistet werden müssen.
Die unerquickliche Reparationsfrage ist so bis zu einem gewissen Grade auch ein Reparationstheater gewesen. Denn unter dem Druck ihrer jeweiligen Heimatfronten hatten Deutsche wie Alliierte, freilich aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, ein politisches Interesse daran, das ganze Problem propagandistisch hochzuspielen und die Belastung durch die Reparationen als schwerwiegender darzustellen, als sie tatsächlich war. Schon die phantastische Londoner Reparationssumme von 132 Milliarden Goldmark entsprach aufgrund der Aufteilung in ein kompliziertes System unterschiedlicher Schuldenklassen mit zum Teil weit aufgeschobenen Laufzeiten bei näherem Hinsehen einer viel geringeren Schuld.
Die Einsicht in derlei Übertreibungen hat indes in der Geschichtswissenschaft neue Verstiegenheiten hervorgebracht. Dazu gehört eine gewisse Tendenz einiger Historiker, die Reparationen gleich rundum als Kleinigkeit abzutun. Die Tribute, so die These, hätten mit strikter Haushaltsführung und höheren Steuern kraft eigener Anstrengung von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg voll geleistet werden können, wenn die Deutschen nicht aggressiv vom Bazillus des Revisionismus befallen gewesen wären. Statt dessen hätte die Weimarer Republik ohne Mitleid für die Nöte der Alliierten eine »Zahlungsfähigkeit ohne Schmerzen«22 vorgezogen, erst zynisch die Inflation angeheizt, später allenfalls auf Pump gezahlt und sich zu viele soziale Aufwendungen und zu höhe Löhne geleistet. Freilich läßt sich die Belastbarkeit der fragilen Weimarer Demokratie nicht nur am Bruttosozialprodukt, sozusagen unter politischen ceteris paribus-Bedingungen messen.