Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages am 28. Juni 1919.
G. Clemenceau (Frankreich), Woodrow Wilson (USA) und D. Lloyd George (GB)
verlassen das Schloß von Versailles nach der Vertragsunterzeichnung.
JOHN
MAYNARD
KEYNES
KRIEG UND FRIEDEN
Die wirtschaftlichen Folgen
des Vertrags von Versailles
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
Herausgegeben und mit einer Einleitung
von Dorothea Hauser
BERENBERG
Dorothea Hauser
GELD UND MORAL
Noch jeder Friedensschluß hat den Charakter des Krieges, der ihm vorausging, in sich getragen. Man kann daher den Friedensvertrag von Versailles, der auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, folgte, auch als die Katastrophe nach der Katastrophe bezeichnen. Zu tief waren die Gräben, die der jahrelange Stellungskrieg auch in den Köpfen der Menschen hinterlassen hatte, zu groß auch die Versprechen, die alle Kriegsparteien für den Fall des Sieges vier Jahre lang ihren Bevölkerungen eingetrichtert hatten, als daß über den Gräbern von zehn Millionen Toten der 1914 begonnenen blutigen Selbstzerstörung Europas mit einem bloßen Federstrich hätte Einhalt geboten werden können. Vieles von dem, was die politische Instabilität jener beiden Jahrzehnte ausmachen sollte, die schon den Zeitgenossen oft düster als Zwischenkriegszeit erschienen, nicht zuletzt die finanzielle und wirtschaftliche Zerrüttung Europas, war weniger Folge des Friedensdebakels als vielmehr des Krieges selber.1 Wenn auch der Mythos vom »Schandvertrag« sich bis heute hält: Versailles allein läßt sich kein deutsches Fatum andichten.
Daß die Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatten – nichts weniger als eine Neuordnung der Welt –, ihnen über den Kopf wachsen könnte, daran mochten die Staatsmänner, die 1919 in Paris ein halbes Jahr zusammensaßen, zunächst nicht denken. Und nicht nur sie: Als am 11. November 1918 endlich die Waffen schwiegen, hatte allenthalben große Zuversicht, ja sogar Begeisterung in der Luft gelegen. Denn von jenseits des Atlantiks erklang eine Heilsbotschaft, die dem traumatisierten alten Kontinent verhieß, daß das Massenopfer nicht umsonst gewesen sei: Man habe Krieg geführt, um in der Zukunft den Krieg zu verhindern und zugleich die Welt »safe for democracy« 2 zu machen. Sie wurde ausgegeben von dem Staatsoberhaupt jenes Landes, ohne dessen erst finanzielle, ab 1917 dann auch militärische Unterstützung die Entente den Krieg wohl kaum gewonnen hätte. 1918 schlug die Stunde Amerikas, dessen Aufstieg zur Weltmacht das einzige bleibende Ergebnis des Ersten Weltkriegs sein sollte.
Die Vierzehn Punkte, die US-Präsident Wilson Anfang 1918 in Reaktion auf den bolschewistischen Umsturz in Rußland verkündet hatte, waren seinerzeit nicht weniger revolutionär als die Parolen Lenins. Und die Bereitschaft der Menschen, an den Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte mit Frieden, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Völker zu glauben, war so umfassend wie die faktische Sinnlosigkeit des großen Schlachtens vorher. Nicht nur die Deutschen, die – durch den Schachzug ihrer Militärs, die unvermeidliche Niederlage in einem Moment anzuerkennen, in dem noch kein alliierter Soldat auf deutschem Boden stand – für Illusionen besonders empfänglich waren, wollten den Amerikaner beim Wort nehmen. Man kann die emotionale Verheißung, die die Menschen damals mit den Parolen des amerikanischen Präsidenten verbanden, gar nicht genug betonen: Als Wilson, der sich selber freilich eher als Missionar und moralischer Schiedsrichter verstand, im Dezember 1918 in Paris eintraf, war es, als ob der Messias käme. Der Jubel auf den Straßen wollte kein Ende nehmen und fand sein Echo in der weihevollen Hochgestimmtheit zahlreicher Friedensunterhändler.
»Wir wollten nicht nur den Frieden vorbereiten, sondern den ewigen Frieden. Uns umgab der Glorienschein eines göttlichen Auftrags«3, faßte der Diplomat Harold Nicolson im Rückblick die anfängliche Gefühlslage vieler in der britischen Delegation zusammen. John Maynard Keynes, der ihr als Vertreter des britischen Schatzamts in prominenter Stellung angehörte, teilte derlei Zuversicht nicht. Nicht zuletzt geprägt durch seine Zugehörigkeit zum avantgardistischen Londoner Künstlerkreis von Bloomsbury, ließ ihn seine schon den ganzen Krieg über skeptische Haltung, was staatsmännische Vernunft und Kompromißbereitschaft angeht, von vornherein auch für danach wenig Gutes erwarten. Zwar entlarvte auch Keynes, wie er Mitte April 1919 an einen Bloomsbury-Freund schrieb, Wilson umstandslos als »den größten Betrüger auf Erden«4. Doch im Vergleich zu dem Ton enttäuschter Hoffnung, den der gar nicht kleine Chor anglo-amerikanischer Versailles-Kritiker bald anstimmte, war Keynes’ bereits im Dezember 1919 veröffentlichte Philippika Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages in weit geringerem Maße ein Produkt überzogener Erwartungen an die Friedensmacher. Im Gegenteil: Seine Polemik war von der Überzeugung getragen, daß auf den Trümmern des Weltkriegs die Zukunft nicht im Treibsand politischer Ideen und Leidenschaften, sondern zuallererst in der grenzüberschreitenden Rationalität der ökonomischen Sphäre liege. Eben dieses letzte Residuum der Vernunft aber, so sah es Keynes, drohte mit den in Versailles festgelegten wirtschaftlichen Friedensbedingungen dem Irrsinn einer politischen Zivilisation in extremis anheimzufallen, die nach Deutschlands kalkulierter Aggression gegen das neutrale Belgien vom August 1914 einen Weltenbrand entfesselt und ein Goldenes Zeitalter des Wohlstands beendet hatte.
Hiermit formulierte Keynes, der seit seinen Cambridger Studientagen als Allround-Genie galt, nicht nur einen beispiellosen Überlegenheitsanspruch des Ökonomischen über die Politik. In seinen Augen drohten die finanziellen Klauseln des Versailler Vertrags durch eine wirtschaftliche Schwächung Deutschlands nicht allein die Verlierernation, sondern den ganzen Kontinent auch politisch zu ruinieren. Seine beißenden, nicht immer fairen Porträts der alliierten Friedenshäuptlinge gaben den Hintergrund für einen finsteren Ausblick: Keynes prophezeite nichts weniger als »einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution, vor dem die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen werden und der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird«.5 Freilich beließ es der Ökonom nicht bei diesem abgründigen Szenario. Vielmehr lieferte er seine Rettungsvorschläge, die er 1922 in einem Folgeband unter dem Titel Revision des Friedensvertrages noch weiter ausarbeiten sollte, gleich mit. Obwohl, wie das ganze Traktat, brillant und mit Herzblut geschrieben, waren sie angesichts des Völkerhasses und der politischen Evangelien, die nach dem Ersten Weltkrieg im Schwange waren, mit ihrem Beharren auf einem Frieden der ökonomischen Vernunft von großer Nüchternheit. Tatsächlich waren sie zu nüchtern. Denn für die Qualen und die Ängste des Hauptleidtragenden des Krieges, nämlich Frankreich, dessen Nordteil die Deutschen systematisch verwüstet und demontiert hatten, zeigte Keynes bemerkenswert wenig Empathie. Mehr noch: Das von ihm geforderte und für Europas Erholung unentbehrliche finanzielle Engagement der USA, die als Wirtschafts- und Handelsmacht fortan weltweit unangefochten blieben, ließ sich vorerst kaum erzwingen. Schließlich hatten die Amerikaner, obgleich durch den Krieg reich geworden und durch den späten Kriegseintritt relativ unverschlissen, selbst ihren ausgezehrten Koalitionären jeglichen Schuldenerlaß verweigert. Gleichwohl lag Keynes’ Entwurf zu Recht die Erkenntnis zugrunde, daß allein Europas wirtschaftliche Verschränkung, notwendig angetrieben von der Wirtschaftslokomotive Deutschland, der Schlüssel für den Wiederaufbau wie auch die politische Aussöhnung des kriegsversehrten Kontinents sei. Sein furioses Pamphlet ist, was allzuoft übersehen wird, gleichermaßen eine Kampfansage gegen Versailles wie eine frühe Werbeschrift für das Programm einer europäischen Integration. Man kann es mit Blick auf den weiteren Fortgang des 20. Jahrhunderts nicht ohne Erschütterung lesen.