Sofort nach seinem Tod verbreiteten sich Gerüchte, dass Feltrinelli Opfer eines Geheimdienstkomplotts und ermordet worden sei, während die militante Linke darauf bestand, dass er kein Opfer, sondern ein Revolutionär sei, der kämpfend gefallen sei. Der Roman gibt in seiner Vielstimmigkeit der komplexen und kontroversen Figur des Verlegers ihre Würde zurück, indem er ihn in seinen Motiven und Handlungen ernst nimmt und sich gegen eine Entstellung wendet, die darauf abzielt, eine unbequeme Person unkenntlich zu machen. Der Verleger erscheint so als die Summe der Widersprüche seiner Zeit und als »ein leidenschaftlicher, aufrechter, zerrissener Zeuge, offen gegenüber der Welt, die sich verändert«.
Dennoch ist das Buch kein biografischer Roman. Der komplexe Text stellt vielmehr das Porträt einer Epoche dar, eingefangen im Moment des Todes des Verlegers, der einen unwiederbringlichen Bruch, einen Einschnitt in der Geschichte der radikalen italienischen Linken bedeutete. Danach war nichts mehr wie zuvor. Der Tod des Verlegers stellte alles in Frage und forderte Entscheidungen heraus. Er markierte den Übergang von einer Phase des Kampfes zu einer anderen, in deren Verlauf sich die Auseinandersetzungen zugleich radikalisierten und dezentralisierten. Der neue Zyklus beinhaltete das Ende der alten, an die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften gebundenen Arbeiterbewegung und beruhte auf dem Aufbruch einer neuen rebellischen Generation, die sich frontal gegen das Regime der Arbeit selbst kehrte und die Kämpfe auf das gesamte gesellschaftliche Terrain ausweitete. Die Revolution wurde alltägliche Praxis, verband sich mit einer neuen Art zu denken und zu lieben. Getragen von einer stürmischen Jugend, die in ihren unmittelbaren Lebensverhältnissen, in ihren Verkehrsformen und Geschlechterverhältnissen so etwas wie eine anthropologische, nicht mehr rückgängig zu machende Veränderung durchmachte, die so tief reichte, dass für sie eine Rückkehr in die etablierten Verhältnisse unmöglich war. Diese existenzielle kulturelle Revolution wird einen kurzen, aber nachhaltigen Kampfzyklus prägen, der mit der Entführung Aldo Moros durch die Roten Brigaden, in denen das alte, monolithische Revolutionsmodell fortlebte, der fortschreitenden Militarisierung und der staatlichen Repression sein Ende finden wird.
Der Roman ist kunstvoll konstruiert und in zwölf Szenen gegliedert. Die ungeraden Kapitel geben im Zeitraum zwischen dem Auffinden der Leiche und der Beerdigung des Verlegers den Obduktionsbericht der Leiche, den jeweiligen Stand der polizeilichen Ermittlungen, die Reaktionen der Presse, Erklärungen der Politiker, Nachrichten über das Geschehen in aller Welt wieder. In den geraden Kapiteln treffen sich vier ehemalige Weggefährten des Verlegers, die 17 Jahre nach seinem Tod versuchen, einen Film über sein Leben zu drehen und die Schlüsselbedeutung, die dieses Ereignis für sie selbst und die Entwicklung der italienischen Linken beinhaltete, zu ergründen. Eingestreut sind Szenen aus dem Roman »Unter dem Vulkan« von Malcolm Lowry, der die Geschichte einer verzweifelten Liebe und des tragischen Todes eines britischen Konsuls in Mexiko erzählt, der dem Alkohol verfallen ist. Lowrys Roman spielt zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, eine Allegorie der nahenden Katastrophe. Das Filmprojekt über den Tod des Verlegers in Balestrinis Roman wird schließlich scheitern, doch aus den Erinnerungsfragmenten und zahllosen Zitaten entsteht eine Collage, die ein faszinierendes Bild jener Zeit ergibt. In dieser kunstvoll zusammengefügten Polyphonie offenbart sich die Meisterschaft Balestrinis, der sich jeder Wertung enthält und den Lesenden die Freiheit lässt und die Anstrengung zumutet, sich ihr eigenes Bild zu machen.
Auch wenn er selbst in dem Roman – wie in seinem gesamten Werk – unsichtbar bleibt, Nanni Balestrini weiß genau, wovon er redet. Er war neben Toni Negri, Oreste Scalzone und Franco Piperno Gründungsmitglied von Potere Operaio (Arbeitermacht), einer außerparlamentarischen Gruppierung, die aus den Erfahrungen der neuen, unabhängigen Arbeiterkämpfe des Heißen Herbstes 1969 entstand. Später galt seine tiefe Sympathie der Bewegung der Autonomia, die in alle gesellschaftlichen Bereiche diffundierte und die Lebensverhältnisse revolutionierte. Im Kontext des großen staatlichen Schlages gegen die autonome Bewegung am 7. April 1979, in dessen Folge Hunderte von Militanten verhaftet wurden, floh Balestrini auf Skiern über die Alpen nach Frankreich, nachdem er morgens in der Zeitung gelesen hatte, dass nach ihm gefahndet wurde. In der Folge lebte er mehrere Jahre im französischen Exil, bis der Haftbefehl gegen ihn 1984 aufgehoben wird. Im Mai 2019 ist Nanni Balestrini mit 83 Jahren in Rom gestorben. Er ist und bleibt der große, unübertroffene Romancier der italienischen Revolte.
Die Neuausgabe dieses Romans, dessen deutschsprachige Übersetzung wir erstmals 1992, dann 2008 erneut im Rahmen der Trilogie »Die große Revolte« veröffentlichten, ist eine Hommage an unseren Autor und Compagno Nanni. Und zugleich die Erinnerung an einen Verleger, der seine Existenz in die Waagschale warf, im Versuch, die Welt zu verändern und die Ideen umzusetzen, an die er glaubte.
Erste Szene
vierzehn Uhr dreißig der Leichnam ruht auf einem Tisch aus weißen Majolikakacheln durchzogen von langen Rillen in denen das Blut abfließen kann der Körper ist nackt die Haut ist außergewöhnlich blass elfenbeinfarben gegen den gräulichen Hintergrund ist dies der erste äußere Hinweis darauf dass der Tod durch Verbluten eingetreten ist der Professor gibt ein Zeichen der Assistent der Abteilung also der Mann der tatsächlich schneidet setzt das Seziermesser an mit einer kreisförmigen Bewegung rund um den Nacken wird der Tote skalpiert und die Kopfhaut über das Gesicht gezogen dies ist der erste Akt der Obduktion die Stille wird durch das Kreischen der Kreissäge mit der die Schädeldecke geöffnet wird durchbrochen wenn er die Schädelplatte jetzt abnimmt liegt das Gehirn offen da
aber dort unten war nichts keine Gipfel kein Leben kein Aufstieg und dieser Gipfel war auch eigentlich kein Gipfel er hatte keine Substanz keine feste Grundlage was er auch sein mochte er zerbröckelte er brach zusammen während er selbst fiel in den Vulkan fiel er musste ihn also doch erklommen haben obwohl jetzt das Geräusch sich heranwälzender Lava in seinen Ohren war entsetzlich das war ein Ausbruch doch nein das war nicht der Vulkan die Welt selbst zerbarst zerbarst in schwarze Lavaspritzer von Dörfern die in den Weltraum geschleudert wurden während er selbst durch alles hindurchfiel durch die unbegreifliche Hölle von einer Million Panzern durch das Flammenmeer von zehn Millionen brennenden Leibern in einen Wald fiel und fiel
als um vierzehn Uhr dreißig das Messer in Aktion tritt sind die Voruntersuchungen der Autopsie in dem mittelgroßen Saal mit zwei Seziertischen schon seit zwei Stunden in Gang die Leiche war um zwölf Uhr dreißig gebracht worden das Leichentuch wurde entfernt und zahlreiche Aufnahmen wurden gemacht aus der Totalen und Großaufnahmen von jedem Detail dann wurde der Tote langsam entkleidet jedes Kleidungsstück wurde beschrieben und katalogisiert Hemd Weste Jacke mit Fischgrätenmuster grünliche Hosen darüber eine zweite grüne Militärjacke
darunter Unterhemd und Unterhose schweizerische Schuhe mit Gummisohlen der linke Schuh befindet sich noch am Fuß der rechte Schuh wurde