Roter Stern am Schwarzen Meer. Franz Taut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Taut
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475542336
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zum Absetzen gab? Sonst heißt es doch immer: halten und durchhalten bis zum letzten Schuss und Atemzug.«

      »Die Kompanie von Leutnant Fromm ist aufgerieben worden«, erklärte Lemke. »Fromm muss noch ganz zuletzt einen Funkspruch durchgegeben haben. Der Spruch vom Bataillon war der letzte, den wir aufnehmen konnten. Kurz danach ist das Gerät durch einen Treffer ausgefallen. Seither bin ich ohne Verbindung. Glauben Sie, dass die Russen nachstoßen werden?«

      »Nein«, sagte ich, »jedenfalls nicht nachts. Ich schlage Ihnen vor, die Podwolnij-Höfe über dem Westausgang der Schlucht zu besetzen. Sind zwar nur noch Mauerreste da, aber Sie haben ausreichendes Schussfeld, falls doch etwas Überraschendes eintreten sollte.« Ich zog die Karte aus meiner Meldetasche und zeigte Leutnant Lemke den Weiler, der schon seit Anfang Juni völlig zusammengeschossen war.

      Lemke schien dankbar für meinen Rat. »Sie gehen doch zum Bataillonsgefechtsstand«, sagte er. »Können Sie die gehfähigen Verwundeten mitnehmen und dafür sorgen, dass man Sankas zum neuen Standort schickt?« Er nannte die ungefähre Zahl der Verluste. »Genaue Meldung kann ich noch nicht machen.«

      »Klar«, sagte ich, »es tauchen ja auch nachträglich meistens noch Vermisste auf.«

      Bevor ich aufbrach, gab ich allen zum Abschied die Hand. Suhrmann reichte mir meinen Rucksack, den er für mich geborgen hatte. Die gehfähigen Verwundeten – ein halbes Dutzend niedergedrückter Gestalten – folgten mir.

      Leutnant Lemke begleitete mich ein paar Schritte. »Dass das ausgerechnet heute Abend kommen musste«, sagte er. »Ich glaube, die 17. Armee hat auf ihrem Rückzug zu früh haltgemacht.«

      Ich gab ihm im Stillen recht. »Machen Sie’s gut, Herr Lemke«, sagte ich. »Nehmen Sie’s nicht zu schwer. Wir können’s ja nicht ändern.«

      Er ging zurück zur Kompanie, die er nun an meiner Stelle führte. Wir durchschritten die Schlucht. Im Westen verglomm das letzte verblassende Rot. Der Abendstern leuchtete schon strahlend hell. Man hörte keinen Gefechtslärm mehr. Die Artillerie von drüben schoss ihr übliches Störungsfeuer. Unsere Geschütze dagegen schwiegen.

      Es wurde rasch dunkel. Am hohen rauchigen Himmel blinkten die sommerlichen Sternbilder des Ostens auf. Von Süden wehte ein warmer Wind. Als wir die Schlucht verlassen hatten und den Weg zum Kompanietross einschlugen, wo sich auch der Truppenverbandsplatz befand, tauchten plötzlich Schatten vor uns auf. Ich brachte die Maschinenpistole in Anschlag und rief: »Halt! Wer da?«

      Die Schatten verschwanden im Gebüsch. Schüsse krachten. Wir warfen uns in Deckung und feuerten auf die Mündungsblitze. Geraschel, russische Flüche, dann wurde es still.

      Wir warteten eine Weile, ehe wir unseren Weg fortsetzten. Ich nahm an, dass wir der Besatzung eines abgeschossenen feindlichen Panzers oder einem Spähtrupp der Russen begegnet waren. Das Brummen einer Polikarpow U-2, »Nähmaschine« genannt, wurde laut. Das Flugzeug zog hoch am nächtlichen Himmel weite Kreise. Ein Leuchtfallschirm pendelte herab. Zwei, drei Bomben detonierten mit laut dröhnendem Schall.

      Beim Überqueren eines Hügels sahen wir weit zur Rechten Feuerschein. Es war wohl einer der durchgebrochenen Panzer, den eine Pak in Brand geschossen hatte. Unweit der Schlucht, in der der Kompanietross hauste, rief uns ein Posten an. Ich nannte die Parole. Sie hieß an diesem Tag groteskerweise »Ladenschluss«.

      Die Stimme, die mich angerufen hatte, war fremd. Sie gehörte, wie ich sogleich feststellte, einem Mann vom Bataillonsstab, der mit vier anderen zur Sicherung über der Schlucht lag. Ein MG war schussbereit nach Osten gerichtet.

      »Was habt denn ihr vor?«, fragte ich.

      »Vorgeschobener Bataillonsgefechtsstand«, erklärte der Führer des kleinen Trupps. »Der Tross ist zurückverlegt worden.«

      Ich lief, so schnell ich konnte, den Trampelpfad hinunter. Die Verwundeten, die bei mir waren, trotteten langsam hinter mir her. Vor dem Bunker, den sich unser Hauptfeldwebel eingerichtet hatte, stand ein Posten mit Stahlhelm und Maschinenpistole. Er erkannte mich und sagte, auf die Tür weisend, die aus einem zerstörten Dorf stammte: »Der Herr Major ist drinnen, Herr Oberleutnant.«

      Ich öffnete die Tür, trat ein und schloss sie rasch hinter mir, da eine Petromaxlampe hellen Lichtschein in dem geradezu wohnlich ausgestatteten Bunkerraum verbreitete. Major Wilhelmi stand vor einer auf einem Tisch ausgebreiteten Karte. Mit einer Hand hielt er den Hörer des Feldfernsprechers ans Ohr, die andere bedeckte den von uns aufgegebenen Abschnitt auf der Karte. Neben ihm stand Leutnant Stapf, der Adjutant. Der Bataillonskommandeur nickte mir flüchtig zu. Stapf gab mir die Hand. Es war eine Geste stummer Anteilnahme, als hätte ich den Verlust eines nahen Angehörigen zu beklagen.

      Major Wilhelmi sagte mehrmals »Jawohl, Herr Oberst«, dann legte er auf und läutete ab.

      Ich begann auf einmal zu zittern wie unter heftigem Schüttelfrost und fühlte, wie es mir heiß in die Augen schoss. Nervenkollaps! Ich hatte es schon erlebt, dass standhafte Männer wie Kinder losheulten, wenn die Reaktion überwundener Schrecken sie überkam.

      Major Wilhelmi, ein kleiner, untersetzter Herr mit breitem Brustkasten und rundem Kopf, packte mich an beiden Armen. »Beruhigen Sie sich, Emser«, sagte er. »Schöner Schock. Kann mir’s denken. Brauchen nicht drüber zu reden. Weiß schon alles. Fromm hat noch einen Funkspruch durchgegeben, als er schon von den Panzern überrollt war. ›Sie sind im Graben‹, waren seine letzten Worte, dann war die Verbindung abgerissen. Sieht böse aus. Rechts hat die ›Spielhahnfeder‹ mit ’ner verstärkten Kompanie abgeriegelt. Links ist es noch unklar. War ja nicht gerade ein freundlicher Empfang für Leutnant Lemke. Ist er unverletzt?«

      »Jawohl, Herr Major«, antwortete ich, wieder gefasst. »Er besetzt mit dem Rest der Kompanie die Podwolnij-Höfe. Was ist mit den Panzern, Herr Major?«

      »Vier sind abgeknallt. Einer muss sich verschossen haben. Die Besatzung hat ihn gesprengt. Der Letzte kurvt noch irgendwo ’rum. Egal – einer allein kann nichts ausrichten. Wie steht’s mit den Verlusten? Hoch?«

      Ich teilte ihm die von Leutnant Lemke angegebenen Zahlen mit. Sechs Unteroffiziere und 22 Mann hatten am Sammelplatz gefehlt. Die Mehrzahl von ihnen war gefallen oder schwerverwundet in die Hand des Feindes geraten. Der Rest galt als vermisst.

      »Ich schicke Sie mit einem Kradmelder zurück«, sagte Major Wilhelmi. »Lasse Sie ungern gehen – gerade jetzt. Aber die Division schreit nach Ihnen. Beim Regiment ist Hochbetrieb, wie Sie sich vorstellen können. In zwei Stunden soll ein Gegenangriff anlaufen. Vom Führer persönlich befohlen. Morgen früh muss die Stellung wieder in unserem Besitz sein. Vollzugsmeldung morgen früh fünf Uhr. Der General soll über diese Einmischung außer sich sein. Habe gerade mit dem Regimentskommandeur gesprochen. Die Division hat bei ihm einen vorgeschobenen Gefechtsstand eingerichtet. Sie können ja versuchen, sich beim General zu melden. Weiß nicht, ob er Zeit für Sie hat. Wenn nicht, fahren Sie gleich weiter nach Pokrowskaja. Den Kradmelder schicken Sie mir sofort zurück. Vielleicht brauche ich ihn heute Nacht.«

      Bevor ich mich abmeldete, bat ich den Major, für die Verwundeten zu sorgen, die ich mitgebracht hatte.

      »Machen wir«, sagte Major Wilhelmi. »Ich habe einen Doktor hier. Krankenwagen sind im Anrollen. Wird allerhand fällig werden heute Nacht, schätze ich.«

      Leutnant Stapf hatte sich entfernt, um den Kradmelder zu mobilisieren. »Na ja, Herr Emser«, sagte Major Wilhelmi zum Abschied. »Nehmen Sie’s nicht so schwer. Hat ja einmal so kommen müssen. Eins gegen vier kann auf die Dauer nicht gut gehen. Wird im Übrigen bereinigt werden.«

      Ich verließ den Bunker. Vor der Tür traf ich mit Leutnant Stapf zusammen. »Diesmal werden wir Zuschauer sein«, sagte er. »Die Kompanie Fromm ist aufgerieben. Mit Ihrer ist ja derzeit auch nichts auszurichten. Und die 12. haben wir abgegeben. Mal was anderes, sich den Zauber vom Feldherrnhügel aus anzusehen. Das dritte Mal jetzt, dass die Wolfsschanze einen Nachtangriff befiehlt. Im Juli war’s bei den 97er Jägern genauso. Nachts mussten sie die verlorene Höhe wieder holen. Und sie haben es geschafft.«

      Der Motor des Krads knatterte schon.