Roter Stern am Schwarzen Meer. Franz Taut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Taut
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475542336
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waren verschwunden. Der Drahtverhau, erst in der vergangenen Nacht vom Pionierzug neu verlegt, war stellenweise völlig zerfetzt oder ins Trichterfeld gedroschen. Erdbraunes Gewimmel bewegte sich durch die Pulverschwaden. Stumm wie ein unabwendbares Verhängnis schob sich die Masse der Angreifer bergan. Plötzlich kam mir zum Bewusstsein, dass ich die ganze Zeit über gehandelt hatte, als ob ich noch der Kommandierende wäre. Ich blickte zur Seite. Dicht neben mir war Leutnant Lemkes zerschundenes Gesicht. Unter dem Stahlhelm sah es wie eine schreckliche Fratze aus. Ohne mich zu beachten, feuerte der Leutnant seine Maschinenpistole ab.

      Unbeirrt rückten die Angreifer näher. Lücken, die entstanden, schlossen sich wieder wie durch Hexerei. Zur Linken, vor dem Abschnitt unserer Nachbarkompanie, übertönten das Mahlen von Panzerketten und das Aufheulen von Motoren den wild tobenden Lärm der Infanteriewaffen. Dann setzte das scharfe »Ratsch-Bumm« von Kanonen ein.

      »Drüben brechen sie mit Panzern durch«, sagte Lemke unversehens im Ton einer sachlichen Feststellung. Er schien recht zu haben. Dem Geräusch nach überrollten die stählernen Kolosse die Nachbarkompanie. Aber das bedeutete nicht viel. In der Tiefe des Hauptkampffeldes waren Panzervernichtungstrupps, Pak und Artillerie bereit. Zur Linken schwoll der Gefechtslärm bedrohlich an. Handgranaten detonierten mit trockenem Bellen. Nahkampf! Demnach war der Feind beim linken Nachbarn bis an den Graben gelangt. Ein Mann vom dritten Zug kam in großen Sprüngen heran. Gellend schrie er: »Er ist drin! Er rollt den Graben auf!«

      Das Schnarren russischer Maschinenpistolen bestätigte die alarmierende Meldung.

      Ich starrte den Hang hinab. Die erdbraune Woge brandete wie gegen eine unsichtbare Mauer an, zerschellte im rasenden Abwehrfeuer und verschwand, wie von der Erde verschluckt, in den tiefen Schlünden der Trichter. »Machen Sie hier weiter!«, rief ich Lemke zu, der wieder wie entrückt das Magazin seiner MP leerschoss.

      Er wandte mir sein schweißnasses Gesicht zu. »Und Sie? Gehen nach Hause – was?«

      »Klar«, rief ich lachend, »aber vorher seh’ ich zu, dass ich den Iwan aus dem Graben werfe.«

      Ich stopfte mir Eierhandgranaten in die Taschen, nahm meine Maschinenpistole und hastete nach links durch den Graben. Schon kamen mir die Ersten vom dritten Zug zögernd entgegen.

      »Was ist los?«, fuhr ich sie an.

      »Der Iwan rollt die Stellung auf«, antwortete einer.

      »Kehrt marsch!«, brüllte ich. »Ran mit euch!«

      Sie drehten sich um und folgten mir. Ich stolperte über einen Verwundeten, dann über zwei Tote. Vor einem Knick des Grabens verharrte ich, zog eine Handgranate ab und warf sie vorspringend und rasch in Deckung zurückweichend um den Knick. Als die Detonation verhallte, drang ich wieder vor und gab einen Feuerstoß aus der Maschinenpistole ab. Der Feind antwortete mit zwei Handgranaten. Eine explodierte außerhalb des Grabens, die andere verwundete zwei Mann hinter mir. Mit den Sandsäcken vom Stand eines zerschossenen MGs schuf ich eine Deckung im Graben. Wenn es uns nicht gelang, den Einbruch abzuriegeln, stießen die Russen in die Flanke der Kompanie, die in verzweifeltem Abwehrkampf gegen die frontal angreifenden Kräfte des Gegners stand. Immer wieder versuchte der Feind, um den Knick des Grabens vorzudringen. Immer wieder warfen wir ihn zurück. Mein Vorrat an Handgranaten ging zur Neige. Ich wandte mich ab, um neue Handgranaten anzufordern.

      Ein Verwundeter kam schwankend auf mich zu.

      »Meldung von Leutnant Lemke«, stammelte er. »SMG ausgefallen. Stellung kann nicht mehr gehalten werden. Bataillon befiehlt zurückzugehen. Kompanie löst sich vom Feind.«

      »Was?«, schrie ich außer mir. »Verrückt geworden?«

      »Befehl vom Bataillon, Herr Oberleutnant«, antwortete der Verwundete mit weinerlicher Stimme. Im gleichen Augenblick wandte er sich torkelnd um und tappte davon.

      Die Leute, die bei mir waren, machten Anstalten, dem Melder zu folgen. Ich sah ein, dass sie nicht zu halten waren, dass es sinnlos wäre, am Riegel weiter Widerstand zu leisten, wenn die Kompanie die Stellung verließ. Als Letzter rannte ich hinter den anderen her.

      Ein Verwundeter klammerte sich an mein Bein. »Nicht zurücklassen – bitte nicht zurücklassen!«, jammerte er mit brüchiger Stimme. Es war der MG-Schütze Selbmann, der so sehr darauf bedacht gewesen war, dass ich in der Stellung blieb. Seine Waffe hing schräg oben am Grabenrand.

      »Keine Angst, Selbmann«, beruhigte ich ihn. »Wir nehmen Sie mit.«

      Als ich ihn unterfasste, um ihn hochzuheben, sank sein Kopf zurück. Sein Blick wurde glasig, und sein Mund klappte auf. Ich nahm sein Soldbuch und seine Erkennungsmarke, ergriff das verwaiste MG, in dem noch ein halb gefüllter Patronengurt hing, und hastete weiter durch den Graben. Von den Leuten, die bei mir gewesen waren, war nichts mehr zu sehen.

      Der Gefechtslärm war verstummt. Verhalten näherte ich mich dem Laufgraben, der von der Mitte unseres Abschnitts nach rückwärts führte. Hinter mir hörte ich wirres Durcheinander russischer Stimmen, übertönt von lauten Kommandorufen. Vorsichtig schob ich mich um die letzte Biegung, prallte zurück und nahm das MG fest an die Hüfte. Kaum zwanzig Schritte vor mir, dort, wo der Laufgraben abzweigte, standen mehrere Russen – acht oder neun Mann –, die offenbar soeben in die Stellung eingedrungen waren. Ich feuerte aus der Hüfte, schoss mich zum Laufgraben durch und verschwand in der Sappe, bevor der verwirrte Feind Zeit zur Abwehr fand. Erst als ich schon ein Stück hinter mir hatte, detonierten Handgranaten, doch niemand schien mir zu folgen. Dennoch hatte ich ständig, während ich durch den vielfach gewundenen Laufgraben eilte, das erbärmliche, niederträchtige Gefühl, jeden Augenblick könne mich ein Schuss in den Rücken treffen. Meine längst verheilte Verwundung am linken Bein machte sich mit stechenden Schmerzen bemerkbar.

      Als ich um eine der Windungen bog, stand Feldwebel Suhrmann vor mir. Er trug meinen Rucksack. »Wollte grade nach Ihnen sehen, Herr Oberleutnant«, sagte er, nahm mir das MG aus den Händen und lud es sich auf die Schulter. Der Patronengurt war jetzt leer.

      »Los«, sagte ich, »weiter!«

      »Nach Ihnen, Herr Oberleutnant«, gab Suhrmann gelassen zurück.

      Bald erreichten wir die kritische Stelle, wo der Graben, dessen Sohle im letzten Stück immer höher anstieg, zu Ende war. Nun waren 20 Meter einer Grashalde zu überqueren, ehe die tief eingeschnittene Schlucht begann, in der wir eine Quelle zu einer primitiven Duschanlage gefasst hatten. Zuvor waren mehrere Schüsse gefallen. Als wir im Laufschritt den Graben verließen, schnarrte hinter uns ein russisches Maxim, und die Geschossgarben pfiffen nah vorbei. Ein Toter lag am Eingang zur Schlucht. Ich sprang in die schützende Deckung, stand geborgen und atmete tief auf. Suhrmann folgte mir. Auch er war unverletzt.

      »Wie hat das nur passieren können, Herr Oberleutnant?«, murmelte er, als erlaube er erst jetzt seinen Gedanken, sich mit dem zu beschäftigen, was soeben geschehen war.

      Die Kompanie hat die Höhenstellung verloren, dachte ich und hörte mich sagen: »Wie eben solche Sachen passieren, Suhrmann. Erdrutsch oder Hochwasser – etwas Ähnliches muss es gewesen sein.«

      »Ja«, meinte Suhrmann, der Versebastler, »Iwan und Germanski haben beide keinen Platz im Graben.«

      Wir kletterten und rutschten den steilen Hang hinunter. Abendschatten füllten die Schlucht, an deren Steilwänden gelb blühende Ginsterbüsche und lichtblaue Glockenblumen wuchsen. Der wolkenlose Himmel glühte im blutroten Schein des Sonnenunterganges. 19.30 Uhr. Vor einer Stunde hatte der Feuerschlag der russischen Artillerie begonnen.

      Drunten beim Waschplatz hatte sich die Kompanie gesammelt. Sie standen mit hängenden Köpfen. Auf Krankentragen lagen Verwundete mit ihren Notverbänden. Unverändert rann das Quellwasser durch den durchlöcherten Margarineeimer. Erst am Morgen hatte ich inmitten einer Schar übermütiger nackter Gestalten ein Duschbad genommen. Doch jetzt war keinem zum Scherzen und Lachen zumute.

      Leutnant Lemke kam uns entgegen. Sein Stahlhelm hing am Koppel. Das weit vorspringende Schild der Tropenmütze beschattete sein Gesicht.

      »Fabelhaft, dass Sie es geschafft haben, Herr Emser«, sagte er. »Denken Sie, ich habe sogar noch meine Aufzeichnungen