Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen. Annerose Matz-Donath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annerose Matz-Donath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783938176825
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       Zahnschmerz im Herzen

      Frau Kunzes Entlassungspapiere waren auf Suhl in Thüringen ausgestellt. Das war der Ort, an den sie im Kriege evakuiert worden war und wo man sie acht Jahre vorher verhaftet hatte. Als sie bat, zu ihrer Familie nach Wilhelmshaven gehen zu dürfen, traf sie ein neuer Schreck: Wenn ihr Suhl nicht recht sei, dann könne man ja die ganze „Begnadigung“ rückgängig machen! Wahrlich Grund genug, um entsetzt zusammenzuzucken. Denn noch hingen von den zehn Zuchthausjahren des Urteils zwei unverbüßt über ihrem Haupt. Doch sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und hielt allen Drohungen stand – und schließlich hatte sie sich doch die Fahrkarte nach Wilhelmshaven erkämpft.

      Wartete auf die inzwischen 43-jährige Kriegerwitwe zu Hause, im Schoß der Familie, nun endlich ein neues, bescheidenes Glück?

       „Ja, dachte ich, ich werde nun mit offenen Armen empfangen …

      Sie haben mich ja auch herzlich empfangen, aber auch gleich mit so was, was meine Mutter mir ins Gesicht sagte: ‚Wie konntest du das tun? Hast du nicht an deine Kinder gedacht?‘ – Was Erwachsene ja immer vergessen: Kinder haben feine Ohren, sie hören alles. Vor allen Dingen, was sie nicht wissen sollen – wenn man extra leise spricht. Und es ist bestimmt in all den Jahren meiner Gefangenschaft von meinen Angehörigen oft so debattiert worden: ‚Was kann sie wohl gemacht haben…?‘ und ‚Da mußte sie doch an ihre Kinder denken …!‘ Wenn Kinder so etwas hören, dann fühlen sie sich verraten von ihrer Mutter.

      Natürlich, ich war acht Jahre in Haft – Hasko war inzwischen zehn und Hille – da kam ich gerade zur Konfirmation zurecht. Klar, die konnten mich ja nicht kennen, aber sie kamen mir ausgesprochen feindlich entgegen. Beide. Wenn ich den Kindern etwas sagte, die hörten gar nicht hin. Die überhörten das einfach und ließen mich stehen! Da war eine Sperre aufgebaut worden. Wie weh das tat! Ich hatte doch nur überlebt, um meine Kinder wiederzukriegen! Sonst hätte ich doch gesagt, was soll das Theater? Mein Mann, den ich über alles geliebt hab, war gefallen, die Benachrichtigung hatte ich ja noch gekriegt; meine Kinder wahrscheinlich in Moskau … Ich habe mich in der Haft immer wieder gefragt, warum machst du dieses ganze Elend überhaupt mit? Und die Antwort war immer wieder: Um meine Kinder wiederzukriegen, nach ihnen zu suchen, wo immer man sie hinverschleppt haben könnte.

       Und nun das!

       Das Verhalten meiner Kinder, ihre Opposition, das war für mich …. Ich kann es kaum beschreiben. Nicht, als wenn man mich mit Eis begossen hätte, nein. Sondern als wenn ich ins Feuer gefallen wäre. Diese Abwehr meiner Kinder! Kinder merken ja nicht, welchen Schmerz sie verursachen. Die ziehen eine Grenze, die ist dann einfach da. Und die überwinde nun mal! Aber doch nicht, wenn man mit vollem Herzen kommt und denkt: So, jetzt hast du sie endlich wieder!

       Mit keinem konnte ich darüber etwa auch nur sprechen, was ich erlebt, was ich hinter mir hatte – von Verständnis und Trost ganz zu schweigen! Es hieß höchstens: ‚Jaja, wir wissen, es ist nicht einfach gewesen, so im Zuchthaus – aber wir haben es auch nicht leicht gehabt.’ Und dann fingen sie an aufzuzählen, was sie alles durchgemacht hatten! Dabei waren sie weder ausgebombt worden, noch hatten sie flüchten müssen! – Da war ich dann immer schon still und hab es gar nicht mehr versucht. Sie haben mir ja sowieso auch nicht geglaubt.“

      „Da war ich dann immer schon still“ – wie leicht sich das sagt! Mehr als drei Jahrzehnte! Nachts von schlimmen Erinnerungsträumen geplagt, tags bohrenden Schmerz in der Seele – nicht nur um die verlorenen Jahre, um das gestohlene Leben! „Wer nichts gemacht hat, wird auch nicht eingesperrt! Willst du dich nicht endlich dazu bekennen, statt uns anzulügen?“ Die ihr die Nächsten waren, hatten es ihr so bei der Ankunft gesagt. Und stand es ihnen nicht immer noch in den Augen, wenn sie, wie freundlich auch immer, mit ihr sprachen? Bohrender Schmerz wie „Zahnschmerz im Herzen“ – so hatte Heinrich Heine einst seine eigene Seelenpein genannt.

      Mit Irene Kunze haben unzählige Frauen und Mütter diesen bohrenden „Zahnschmerz im Herzen“ jahrelang stumm ertragen, ertragen müssen! Erst der Zusammenbruch der DDR brachte die Wende – auch und gerade für die Verfolgten, die im Westen lebten! Irene Kunze:

      „Der Einzige, der mir schon damals glaubte, als ich 1954 wiedergekommen war, das war mein Vater gewesen. Aber da war er schon vom Tod gezeichnet. Er hat mir geglaubt, das sah ich an seinen Augen. Bloß – er war auch ein Mann, der seiner Frau nicht gern widersprechen wollte.

       Meine beiden Schwestern – eine ist heute 87, die andere ist schon ein paar Jahre tot – ich hab ihren Zweifel an mir all die Jahre immer schmerzlich gespürt! Beide haben mir erst nach 1989 unter Tränen abgebeten, was sie mir damit angetan hatten. ‚Was du über den Grund deiner Verhaftung erzählt hast, das haben wir dir doch nie geglaubt!’ haben sie da endlich offen zugegeben: ‚Ganz ohne jedes eigene Zutun ins Zuchthaus!? Das gibt es doch nicht; das kann es doch gar nicht geben, haben wir immer gedacht!’

       Damals, als ich gekommen war – Presse war sofort da und hat mich fotografiert, und das ist durch alle Zeitungen gegangen. Meinen Kindern hat das ja schon imponiert. Aber das flaute dann ja ab – und die Zweifel der Familie blieben. Sie waren nett. Sie waren überhaupt immer nett und wohlerzogen. Aber in allem und immer schwang der stille Vorwurf mit wie im Gleichnis vom gefallenen, verlorenen Sohn. Er wird wieder aufgenommen. Aber der Bruder sagt, Herr, wie kannst du ihn so belohnen …? So ungefähr, ja.“

      Es bedurfte vieler Jahre und unendlicher Nachsicht und Geduld, bis eine darüber alt gewordene Frau endlich wieder sagen konnte: „Meine Kinder haben mich lieb!“

      Zu solch bitterer Entfremdung kam es oft auch da, wo Großeltern und Verwandte die Erinnerung liebevoll zu pflegen versuchten. Auch Anni Leifers mußte das aufs Schmerzlichste erfahren. Die Mutti habe auf eine große Reise gehen müssen, hatte die Oma der Enkelin all die Jahre erzählt. Das war für ein kleines Kind nicht leicht zu begreifen. Schon gar nicht aber konnte der Großmutter Liebe die Wunden heilen, die böses Gerede dem kleinen Mädchen schlug. Im Dorfe und gar von Spielgefährten wurde es immer wieder gehässig belehrt: „Du hast ja gar keine Eltern! Du hast überhaupt keine Mutti und auch keinen Vati!“

      In einem kalten Frühjahr kam Anni Leifers nun, nach fünf Jahren, endlich nach Hause zurück. Ihr Kind – es stand jetzt kurz vor der Einschulung – war es wirklich „ihr“ Kind geblieben? Die Probe aufs Exempel fiel vernichtend aus:

       „Meine Mutter hatte ein paar Tage verreisen müssen. Solange sie daheim gewesen war, schien es, als habe meine Tochter sich nach und nach an mich gewöhnt. Aber als ich nun allein mit ihr war und sie wirklich als Mutter betreuen wollte – mein Gott, wie aus einem Vulkan brachen Abwehr und schiere Feindseligkeit aus der Kleinen heraus. Oder war es nur Angst, weil ich ihr zu fremd war?

       Sie hat regelrecht gegen mich gekämpft! Und mit was für einer Energie! So wilde Wutanfälle hätte man dem sonst so braven und sanften kleinen Ding gar nicht zugetraut! Spielzeug flog an die Wand, trommelnd und trampelnd schmiß sie sich auf den Boden. Als ich sie gar ins Bett bringen wollte, ging es erst richtig los. An anfassen, waschen, Nachthemdchen überstreifen war gar nicht zu denken!

       Mir brach eine Welt zusammen! Jahrelang hatte ich doch immer wieder nur davon geträumt, ihren kleinen warmen Körper in meinen Armen zu halten, ihre Ärmchen zärtlich um meinen Hals zu fühlen. Denn sie war ja alles, was mir von meiner ersten großen Liebe geblieben war. Ihren Vater, wenn er denn überhaupt noch lebte, würde ich wohl niemals wiedersehen. Sie hatten ihn nach Sibirien geschleppt.“

      Als sie 1948 verhaftet wurde, war Anni Leifers gerade 17. Ihre einzige Schuld war die Liebe zu einem russischen Soldaten. Ihr Unglück, dass sie in jenem Teil Deutschlands – im Erzgebirge – geboren wurde, der nun Sowjetische Besatzungszone war. Denn was wäre ihr geschehen, hätte nicht ein russischer Junge ihr Herz gewonnen, sondern ein Franzose, Engländer oder Amerikaner an Rhein oder Weser? Der falsche Wohnort brachte ihr statt einer fröhlichen Hochzeitsfeier ein Urteil auf fünfundzwanzig Zuchthausjahre ein.

      Die